Kapitel 6
RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT
DIE WELT-RELIGION JESU
BASISKURS BASILEIOLOGIE
Das Evangelium Jesu von der Gegenwart des Reiches Gottes
Wie „Markus“ selbst das Wort „Evangelium“ versteht, hat er, wie wir festgestellt haben, gleich im ersten Satz seines „Evangeliums“ dargelegt. Und ganz in diesem Sinne steuert er sogleich auf den ersten Höhepunkt seiner Darstellung zu: Nachdem die Verse 2 bis 8 dieses ersten Kapitels mit dem Auftreten Johannes des Täufers einsetzen, ihn als den Vorläufer und Boten Jesu charakterisieren und auf dessen Erscheinen vorbereiten, erzählen die darauffolgenden Verse 9 bis 11 von der Taufe Jesu durch Johannes und wie sich daraufhin der Himmel öffnet, der Geist wie eine Taube auf ihn herabkommt und sich die Stimme Gottes mit den Worten „Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen“, vernehmen lässt. Damit wird das Evangeliums-Verständnis des Verfassers gleich in markanter Weise aufgenommen, woran sich die kurze Erwähnung des Aufenthalts Jesu in der Wüste, seiner Versuchung durch den Satan, seiner Gemeinschaft mit den Tieren und der Fürsorge der Engel für ihn anschließt (Verse 12 und 13).
Vers 14 leitet dann zum öffentlichen Auftreten Jesu über: „Nachdem Johannes verhaftet worden war, kam Jesus nach Galiläa und verkündigte das Evangelium Gottes, indem er sprach“, und nun – so stellt es der Verfasser des Markusevangeliums dar – ergreift Jesus in Vers 15 erstmals selbst das Wort:
Erfüllt ist die Zeit,
gekommen ist das Reich Gottes.
Kehrt um und glaubt an das (= an dieses) Evangelium!
Auch der griechische Urtext endet mit dem Wort „Evangelium“ (ἐν τῷ εὐαγγελίῳ, en tõ euangelío, „an das Evangelium“) – darum und um nichts anderes geht es in diesen Worten. Was aber ist hier die frohe Botschaft, worin besteht sie? So viel ist jedenfalls sofort klar: Ihr „Gegenstand“ ist nicht die Person Jesu selbst, wie es noch wenige Verse zuvor der Fall war, sondern seine Botschaft. Auch wenn „Markus“ selbst bereits eine ganz andere Sichtweise vertritt, sah er sich offensichtlich noch nicht in der Lage, über diese sorgsam, wie ein kleines Gedicht formulierten Worte einfach hinwegzugehen, Worte, die er nicht erst selbst formuliert haben dürfte, sondern die ihm wohl bereits vorgelegen haben. Matthäus hat sie bereits stark gekürzt, der Begriff „Evangelium“ fehlt in seiner Schrift sowohl in dem Jesus zugeschriebenen Wort selbst als auch in dem einleitenden Satz davor (Matthäus 4,17), Lukas hat die Tradition ganz übergangen. (Aller Wahrscheinlichkeit lag den Verfassern dieser beiden wahrscheinlich zwischen den Jahren 80 und 90 nach der Zeitrechnung entstandenen Evangelien das ältere Markusevangelium als Quelle vor. Genaueres dazu ist dem Exkurs 4: Die Zwei-Quellen-Theorie zu entnehmen)
Thema dieses Evangeliums ist das Reich Gottes. Mit diesem Begriff enden die ersten, sehr eng aufeinander bezogenen und syntaktisch parallel aufgebauten Zeilen. Diese enge Zusammengehörigkeit zweier Sätze oder Satzglieder ist eine typische Stilfigur der semitischen Lyrik, der sogenannte Parallelismus membrorum. Der zweite Vers wiederholt das eben Gesagte noch einmal mit anderen Worten, um es nachdrücklich hervorzuheben. Es handelt sich hier also nicht um Prosa, sondern um Poesie. Es ist ein neues Lied, das hier erklingt. Und worin besteht das Neue, eben das Evangelium? Die ungewöhnliche und deshalb auffällige Satzstellung bringt es zum Ausdruck: Beide Male steht das Zeitwort („erfüllt“, „gekommen“) auch im griechischen Text am Anfang. Es handelt sich um eine sogenannte invertierte Wortstellung: Das ist es, worauf es hier ankommt: das Erfülltsein der Zeit, das Gekommensein des Reiches Gottes. Es kommt nicht erst (worum später im Vaterunser wieder gebeten wird), sondern es ist jetzt – endlich! – da. Genau das ist das Neue, das ist die frohe Botschaft: Es ist soweit! Das Reich Gottes ist da! Die Zeit des Wartens ist vorbei!
Die Zeitform der beiden Verben unterstreicht noch einmal, dass es sich um einen jetzt abgeschlossenen Vorgang handelt. Im Griechischen wird hier nicht der sogenannte Aorist verwendet, der ein noch in Gang befindliches, noch nicht abgeschlossenes Geschehen beschreibt, sondern das Perfekt, das zum Ausdruck bringt, dass es eben jetzt soweit ist. Dasselbe, mit „gekommen ist“ zu übersetzende griechische Verb verwendet „Markus“ später noch einmal, und zwar in Kapitel 14,42, wo Jesus nach seinem Gebet im Garten Getsemane seine Jünger zum Aufbruch ruft, denn „der, der mich verrät, ist“ – natürlich nicht nahe herbeigekommen, sondern – „gekommen“, das heißt, er ist da, er ist anwesend. Und das erweist sich denn auch „sofort“, wie es gleich zu Beginn des folgenden Verses wörtlich heißt, als zutreffend.
Nachdrücklich betonen dies auch Gerd Theißen und Annette Merz (Wer war Jesus? Der erinnerte Jesus in historischer Sicht. Ein Lehrbuch, Göttingen 2023, S. 238): „‘Die Zeit ist erfüllt.‘ Es heißt nicht: Sie erfüllt sich, sondern (im Perfekt!), dass sie sich erfüllt hat (peplērōtai).“ Merkwürdigerweise scheint dies aber nicht in gleicher Weise für den zweiten Teil dieser Proklamation zu gelten, obwohl er – sowohl was den Satzbau als auch was die Erzählzeit angeht – dem ersten Teil vollkommen parallelläuft. Theißen/Merz fahren nun nämlich unmittelbar mit folgenden Worten fort: „Auch in der zweiten Aussage: ‚Die Gottesherrschaft ist nahe herbeigekommen‘…“. Nahe herbeigekommen? Ist der Vorgang des Sich-Näherns in diesem Fall etwa noch nicht abgeschlossen, obwohl hier ebenfalls das Perfekt verwendet wird? So wie sich die Zeit erfüllt hat, wie es richtig heißt, die Uhr nicht mehr auf den Weckruf zuläuft, sondern „der Wecker klingelt“, der erwartete Zeitpunkt nämlich jetzt eingetreten ist, so ist der Vorgang des Sich Näherns der Gottesherrschaft abgeschlossen, das heißt, sie ist gekommen, sie ist da. Oder ist das „nahe“ versehentlich in die Übersetzung hineingeraten? Die sich anschließende Erläuterung könnte tatsächlich diesen Eindruck erwecken, denn sie betont, dass der Vorgang des Sich-Näherns eben doch abgeschlossen ist: „…heißt es nicht: Die Gottesherrschaft nähert sich (eggizei), sondern im Perfekt: Sie hat sich genähert (ēggiken).“ Wenn es danach trotzdem heißt: „Immer ist ein abgeschlossener Vorgang gemeint“ (Hervorhebung von mir), scheinen Theißen/Merz anzunehmen, dass das Sich Nähern der Gottesherrschaft kurz vor dem Ziel zum Abschluss gekommen sei, die Gottesherrschaft also weiterhin „nahe“ sei. Was aber wäre damit gewonnen? Was wäre der Sinn dieser Proklamation? Die Gottesherrschaft wäre jedenfalls immer noch nicht da. Nein, das Sich Nähern kommt natürlich erst dann zum Abschluss, wenn sein Ziel erreicht ist und keinen Augenblick früher. Gleichwohl halten Theißen/Merz an ihrer falschen Übersetzung fest, wonach die Gottesherrschaft zwar nahe herbeigekommen, aber eben noch nicht Gegenwart ist (vgl. ebd. S. 223.371.388). Der tiefere Grund dafür ist ihr Unvermögen, sich diesem Zentrum der Jesusbotschaft zu öffnen. Letztlich bleibt es für sie ein unlösbares Rätsel (Näheres dazu findet sich in Kapitel 48). Die Formulierung „Jesus selbst rechnete mit einem eschatologischen Umschwung, der in der Gegenwart beginnt“ (ebd. S. 363) löst es in keiner Weise auf. Ein Umschwung kann nicht in der Gegenwart beginnen und erst in der Zukunft erfolgen.
Doch nicht nur aus sprachlichen Gründen (die invertierte Wortstellung, das Perfekt statt des Aorists, beides eingebunden in die poetische Stilform des Paralleleismus membrorum), sondern auch inhaltlich, aus dem ganzen Zusammenhang heraus geht unmissverständlich hervor, dass das Reich Gottes gerade keine zukünftige Größe mehr ist. Dass es Gegenwart ist, dass es da ist, eben darin besteht hier das Evangelium. Genau dies ist die frohe Botschaft, die hier – erstmals! – laut wird. „Erfüllt ist die Zeit“. Mit der „Zeit“ ist hier nicht die „chronologisch“ ablaufende, immerwährende Zeit gemeint, es wird hier nicht der griechische Ausdruck chrónos verwendet, sondern das Wort kairós. Es bezeichnet den (besonderen, den festgesetzten beziehungsweise erwarteten) Zeitpunkt, den (richtigen) Moment. Genau der hat sich jetzt ereignet, ist da, mit anderen Worten: Es ist (endlich, aber tatsächlich) so weit. „Gekommen ist das Reich Gottes“.
Laut Markus 1,15 steht das Reich Gottes nicht mehr aus, wie man bislang immer angenommen hatte, sondern es ist gekommen, es ist Gegenwart. Das ist hier die ganz neue frohe Botschaft, das Evangelium. „Reich Gottes“ heißt auf Griechisch, der Sprache also, auf die auch die Adjektive „soteriologisch“ und „christologisch“ zurückgehen, βασιλεία τοῦ θεοῦ, basileía toũ theoũ („wörtlich: „Königsherrschaft Gottes“, basileía ist verwandt mit basileus, „König“), sodass es das „basileiologische Evangelium“ genannt werden soll. Es ist das Evangelium, das nicht von Jesus handelt, sondern von ihm verkündigt worden ist. Nicht seine Person ist hier Botschaft und Evangelium zugleich, sondern er ist der Überbringer des Evangeliums von der Gegenwart des Reiches Gottes.
Wir halten somit fest: Das Neue Testament kennt nicht nur das eine nachjesuanische Evangelium von Christus als dem Gottessohn und Erlöser, sondern auch ein inhaltlich völlig anders ausgerichtetes, nämlich das Evangelium Jesu von der Gegenwart des Reiches Gottes.
Allerdings – die markanten Worte in Markus 1,15 stammen höchstwahrscheinlich nicht von Jesus selbst, sondern dürften ihm erst nachträglich zugeschrieben worden sein. Dafür sprechen zunächst einmal vor allem mehrere der hier verwendeten Begriffe. Wörter wie „umkehren“, „glauben“ und auch der Terminus „Evangelium“ selbst, also religiöse beziehungsweise missionarische Fachbegriffe, sind, wie sich noch zeigen wird, dem Wortschatz Jesu fremd. Weit eher gehören sie zum Vokabular der Menschen, die – nach Jesu Tod – an seiner Botschaft festhalten und andere für sie gewinnen wollten. Sie sind es wohl auch gewesen, die versucht haben, die Botschaft Jesu in diesen wenigen Zeilen knapp und so prägnant wie möglich zusammenzufassen. Ob diese missionarisch ausgerichtete Kurzform tatsächlich die Intention Jesu adäquat wiedergibt, eventuell also auch inhaltliche Differenzen bestehen, müssen wir noch überprüfen.
Sollte Markus 1,15 tatsächlich erst in nachjesuanischer Zeit formuliert worden sein, wäre allerdings festzuhalten, dass zumindest in den allerersten Jahren nach Jesu Tod Menschen aufgetreten sind, die das jesuanische, sein basileiologisches Evangelium weitergeben wollten. Noch nicht alle hatten sich dem „soteriologischen Evangelium“ angeschlossen, das dem Bekenntnis zu Grunde liegt, das Paulus im ersten Korintherbrief zitiert und das er selbst und viele andere zu ihrer Botschaft gemacht haben, noch nicht alle hatten sich das „christologische Evangelium“ zu eigen gemacht, das zum Beispiel die Verfasser der neutestamentlichen Evangelien vertreten. Im gesamten Neuen Testament ist allerdings nur an dieser einen Stelle ein Hinweis auf jene zu finden, die in der nachjesuanischen Zeit an dem basileiologischen Evangelium des Jesus von Nazaret festgehalten haben.
Markus 1,15 in deutschen Bibelübersetzungen
In allen maßgeblichen deutschen Bibelausgaben ist allerdings selbst in Markus 1,15 der Kern der Botschaft Jesu – wenn es sich tatsächlich darum handelt, was noch zu überprüfen ist – nicht mehr erkennbar, zumindest seit 2017. In diesem Jahr erschien anlässlich des fünfhundertsten Reformationsjubiläums die revidierte Lutherbibel. Bislang hieß es dort, grammatikalisch korrekt, wenn auch den invertierten Satzbau außer Acht lassend: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen.“ Genau so hatte Martin Luther übersetzt. Auch wenn er den Sachverhalt selbst sicher anders gesehen und das zugrunde liegende griechische Wort an der entsprechenden Stelle im Matthäusevangelium (Kapitel 4,17) und auch schon in Kapitel 3,2, wo „Matthäus“ Johannes den Täufer mit denselben Worten wie später Jesus auftreten lässt, fälschlich, aber seiner eigenen Theologie entsprechend mit „nahe herbeigekommen“ übersetzt hat, heißt es im „Septembertestament“ von 1522 an dieser Stelle gleichwohl: „Die zeit ist erfullet, vnd das reych gottis ist er bey komen“. Luther muss gespürt und sich dem Eindruck nicht haben entziehen können, dass an dieser Stelle und dem ganzen Zusammenhang entsprechend keine andere Wiedergabe möglich ist. Und dabei ist es immerhin fast ein halbes Jahrtausend geblieben. Erst 2017 ist der Wortlaut an das traditionelle kirchliche Verständnis angepasst und der ganze Abschnitt durch die Einfügung eines „nahe“ (jetzt heißt es dort: „und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen“) um seine Ponte gebracht worden.
Und so verhält es sich auch in anderen Übersetzungen. Immer wird das alles entscheidende Präsens zum Futur, ist das Reich Gottes nicht Gegenwart, sondern Zukunft. In der vom Katholischen Bibelwerk im Jahr 2016 herausgegebenen Einheitsübersetzung lautet der entsprechende Versteil: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe.“ In der zuletzt 2018 revidierten „Guten Nachricht“ heißt es an dieser Stelle: „Es ist so weit: Jetzt wird Gott seine Herrschaft aufrichten und sein Werk vollenden“ (in einer Anmerkung heißt es dazu: „wörtlich: Erfüllt ist die Zeit und nahe herbeigekommen ist die Königsherrschaft Gottes“). Die „Bibel in gerechter Sprache“ (2007) übersetzt: „Der Augenblick ist gekommen, die Zeit erfüllt. Die Gottesherrschaft ist nahe gekommen!“ Die „Basisbibel“ (die Übersetzung des Markusevangeliums erschien im Jahr 2006) leitet zwar treffend ein: „Die von Gott bestimmte Zeit ist da“, fügt in den folgenden Basissatz der Botschaft Jesu sogar noch ein „jetzt“ ein, übersetzt dann aber nicht, wie man es nun erst recht erwarten würde: „Sein Reich ist jetzt da“, sondern: „Sein Reich kommt jetzt den Menschen nahe.“ (Hervorhebungen von mir)
Wie wir schon festgestellt haben, spielt das basileiologische Evangelium Jesu in den christlichen Kirchen keine Rolle, wird selbst dort unterdrückt, wo es im Neuen Testament noch aufscheint. In den schon genannten Bekenntnis- und liturgischen Texten hat es keinerlei Spuren hinterlassen. Gleiches gilt für die kirchlichen Katechismen, etwa den in der Evangelisch-Lutherischen Kirche gültigen Großen und Kleinen Katechismus Martin Luthers, den in den reformierten Kirchen am weitesten verbreiteten Heidelberger Katechismus und in gleicher Weise für den Katechismus der katholischen Kirche. Und wenn wir bald feststellen werden, dass die ohnehin nicht sehr zahlreichen Jesusworte im Neuen Testament selbst dort, wo sie noch auffindbar sind, nicht etwa wertgeschätzt und gewürdigt, sondern eher wie Fremdkörper behandelt werden, dann ist diese vollständige Ausblendung des jesuanischen Evangeliums im Christentum nicht einmal verwunderlich. Bereits in der Bibel zeichnet sie sich ab.
Doch genau diesem Evangelium, das nie in das Gesichtsfeld eines Paulus oder eines Martin Luther gelangt ist, gilt jetzt unser Interesse.
Claus Petersen
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