Kapitel 34

RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT

DIE WELT-RELIGION JESU

BASISKURS BASILEIOLOGIE

 

 

 

„… dann hat euch doch das Reich Gottes erreicht“

Vom Austreiben der Dämonen (Matthäus 12,28 / Lukas 11,20)

Das vierzehnte der 21 Jesusworte

 

Im Gegensatz zu dem vorausgegangenen stimmt der Text des folgenden Jesusworts, das ebenfalls der Spruch- oder Logienquelle entnommen worden sein dürfte, im Matthäus und im Lukasevangelium fast wörtlich überein. Lediglich das vierte Wort im griechischen Text wird unterschiedlich wiedergegeben: Bei „Matthäus“ ist vom „Geist“, bei „Lukas“ vom „Finger“ Gottes die Rede. Vieles spricht dafür, dass „Matthäus“ diesen ursprünglicher wirkenden konkreten Ausdruck nachträglich durch eine vertrautere Formulierung ersetzt hat. Außerdem wird das Subjekt des Austreibens der Dämonen im Matthäusevangelium und auch in einem Papyrus aus dem frühen 3. Jahrhundert nach der Zeitenwende, der unter anderem große Teile des Lukasevangeliums enthält, durch die im Griechischen ungewöhnliche Einfügung des Personalpronomens („ich“) hervorgehoben. Da dies in anderen, ebenfalls gewichtigen Handschriften jedoch nicht der Fall ist, dürfte es erst im Laufe der Textüberlieferung eingefügt worden, um das Augenmerk auf die Person des Handelnden, eben Jesus, zu lenken. Dadurch könnte (oder sollte?) der Eindruck entstehen, dass nur er selbst in der Lage ist, eine solche Dämonenaustreibung vorzunehmen. Das Jesuswort lautet demnach höchstwahrscheinlich so:

 

Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe,
dann hat euch doch das Reich Gottes erreicht.

 

Dass es sich tatsächlich um ein authentisches Jesuswort handelt, ist heute so gut wie unbestritten. Es gilt als stärkster Beleg dafür, dass das Reich Gottes für Jesus auch schon Gegenwart sei. Mehrfach erzählen die neutestamentlichen Evangelien, dass Jesus Dämonen ausgetrieben, also Menschen von Einschränkungen, Behinderungen, psychischen Störungen geheilt habe (vgl. zum Beispiel Markus 1,21–28.32–34.39; 5,1–20; 7,24–30; 9,14–29 und ihre Parallelen im Matthäus- und Lukasevangelium; Matthäus 7,22; 9,32–34 sowie, im Großraum unseres Textes, Matthäus 12,22 und Lukas 11,14). Praktisch durchweg wird das Wort dann in der Weise verstanden, dass Jesus durch solche unerklärlich-wunderbaren Heilungen seine Macht über derartige „unreine Geister“ erwiesen habe, mit denen die Dämonen manchmal gleichgesetzt werden. Und eben daran könne man erkennen, dass das Reich Gottes hier und da bereits Wirklichkeit geworden sei.

 

Es handelt sich um eine eigenständige Überlieferung

 

Der Zusammenhang legt diese Interpretation denn auch nahe. Im vorangehenden Abschnitt verteidigt sich Jesus angeblich gegen den Vorwurf, er triebe die Dämonen durch Beelzebúl, den Herrscher der Dämonen, aus. Zwar heißt es dann zu Beginn des Jesusworts, dass er die Dämonen durch den Finger Gottes austreibt, doch ist dies ursprünglich keine Reaktion auf jenen Vorwurf, sondern dient der eigentlichen Aussage, dass dadurch das Reich Gottes jene Menschen erreicht habe. Davon wiederum ist weder zuvor noch danach die Rede. Es folgt ein eigenständiges Bildwort von der Bezwingung eines Starken, das sowohl „Matthäus“ (fast wortwörtlich) als auch „Lukas“ dem Markusevangelium (3,27) entnommen haben. Bei dem Jesuswort handelt es sich also um eine ursprünglich selbstständige Tradition, die deshalb aus sich selbst heraus, kontextunabhängig, zu interpretieren ist.

Sein eigentliches Thema sind nicht die Dämonenaustreibungen als solche, sondern das Reich Gottes. Im griechischen Text steht der Begriff betont am Schluss. Darum geht es hier, und zwar um seine „Vergegenwärtigung“. Es „hat euch erreicht“, das ist die entscheidende Aussage, auf die es Jesus ankommt. „Das hier mit ‚erreichen‘ übersetzte Verb heißt klassisch ‚zuvorkommen‘, ‚voraussein‘, im neutestamentlichen Griechisch und in der Septuaginta [der griechischen Übersetzung des Alten Testaments; C.P.] auch ‚ankommen‘, ‚erreichen‘, ‚hingelangen zu‘, ‚sich erstrecken bis‘. Sein Proprium [seine Besonderheit, sein wesentliches Charaktermerkmal; C.P.] ist, dass das Ziel erreicht ist, also nicht: nur beinahe erreicht ist“, hebt der Neutestamentlicher Ulrich Lutz in seinem Kommentar hervor (Das Evangelium nach Matthäus. 2. Teilband: Mt 8–17, Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament I/2, Zürich/Einsiedeln/Köln/ Neukirchen-Vluyn 1990, S. 260 Anm. 64).

 

Nicht andere, fremde Menschen sind von den erwähnten Dämonenaustreibungen betroffen, sondern die Angesprochenen selbst

 

Die Menschen, die Jesus anspricht, sollen wissen, dass das Reich Gottes tatsächlich zu ihnen gekommen ist, dass sie in das Reich Gottes eingetreten sind. Es hat „euch“ erreicht. Davon aber könnte nicht wirklich die Rede sein, wenn Jesus seine Gesprächspartner*innen hier lediglich auf die eigene, sie selbst gar nicht direkt betreffende Heilungstätigkeit verweisen wollte, aus der abzulesen sei, dass das Reich Gottes dort doch bereits verwirklicht ist. Einerseits blieben diese Menschen in diesem Fall lediglich distanzierte Beobachter*innen, andererseits handelte es sich dabei allenfalls um ein sehr eingeschränktes, sporadisches, fast zufälliges Aufleuchten des Reiches Gottes. Jesus spricht hier aber nicht von einer bereits hier und da stattfindenden Vorwegnahme oder vom „Anbruch“ eines sich erst noch zu entwickelnden Reiches Gottes, sondern davon, dass es die Menschen, an die er sich wendet oder die sich an ihn gewendet haben, tatsächlich, also ganz und gar, erreicht habe.

Wenn Jesus diejenigen, an die er sich hier wendet, darauf hinweisen will, dass das Reich Gottes, und zwar natürlich das ganze Reich Gottes, zu ihnen gekommen ist, darf man seine Worte also keinesfalls objektivierend verstehen, also als einen Satz, der diese Menschen auf etwas verweist, was sich außerhalb ihrer selbst ereignet habe – und sei es auch noch so außergewöhnlich wie ein Exorzismus. Es muss sich vielmehr auf etwas beziehen, was ihre eigene Existenz betrifft. „Reich Gottes“ muss etwas sein, das man gerade nicht beschreiben, nicht aus der Ferne beobachten kann, sondern das ganz entscheidend von jenem „euch“ abhängt: Es hat euch erreicht“, noch wörtlicher wiedergegeben: „ist zu euch gelangt“, „hat sich bis zu euch erstreckt“. Wenn man es nicht selbst erfährt, wird man es nirgendwo anders finden. Im griechischen Text bilden die beiden Wörter „zu euch“ (eph hymās) die Mitte des zweiten Satzteils und eigentlichen Hauptsatzes. Sie gehen dem „Reich Gottes“ unmittelbar voraus, wortwörtlich: „dann ist doch hingelangt zu euch das Reich Gottes“.

 

Worum handelt es sich bei diesen Dämonen?

 

Jesus macht seine Gesprächspartner*innen“ also nicht auf objektiv zu beobachtende Ereignisse aufmerksam, die sich außerhalb ihrer eigenen Existenz zugetragen haben und sie zu bestimmten objektiven Schlüssen veranlassen sollen, sondern er erinnert sie an ihre eigene Erfahrung. Sie haben es leibhaftig erfahren, wodurch sie – so Jesus – des Reiches Gottes teilhaftig geworden sind. Die „Dämonen“, die er „durch den Finger Gottes“ ausgetrieben hat, müssen demzufolge Mächte sein, die sie bislang daran gehindert haben, Mächte, denen sie bislang so gut wie wehrlos ausgeliefert waren. In mehreren der bislang behandelten Texten war bereits davon die Rede: vom Streben nach Reichtum und Besitz zum Beispiel (in Kapitel 22), vom Wunsch, sich über andere zu erheben, erster sein zu wollen (in Kapitel 24), aber auch von der fast zwanghaften Beachtung religiöser Vorschriften – handle es sich um das Fasten oder um den Sabbat –, Bestimmungen, die das Leben einschränken anstatt es zu feiern (in Kapitel 8 und Kapitel 12). Weiteren „Dämonen“ werden wir noch begegnen: dem Leistungsprinzip, der Leistungsgerechtigkeit zum Beispiel (in Kapitel 42) und – indirekt – der trotz ihrer „Austreibung“ auch weiterhin mächtigen „Dämonen“, die durchaus in der Lage sind, ihren Einflussbereich wieder zurückzugewinnen (in Kapitel 44). In all diesen Fällen handelt es sich um bislang selbstverständliche, angeblich alternativlose Verhaltensweisen, die Menschen von ihrer Mitwelt isolieren, sie von ihr entfremden, Verhaltensweisen, die Kindern allerdings noch gänzlich unbekannt sind.

Nicht immer schon hatten sie die Menschen im Griff, dann aber mit einer geradezu übermächtigen Gewalt. Angesicht dieser als ausweglos empfunden Abhängigkeit arrangiert man sich meistens mit ihnen, betrachtet sie als unausweichlich und „normal“, will ihre zerstörerischen Folgen gar nicht mehr wahrhaben. Der Vergleich mit einem Dämon liegt also durchaus nahe. Es bedarf schon einer beinahe übermenschlichen Kraft, eben des „Fingers Gottes“, um von ihrem Bann befreit zu werden.

 

Schlussfolgerungen für das Verständnis dessen, was Jesus mit „Reich Gottes“ meint

 

Genau dies aber ist diesen Menschen geschehen. Für sie hat sich eine geradezu kosmische Wende ereignet. Die bisher unangefochtene Herrschaft dieser „Dämonen“ ist zu Ende gegangen, das „Reich Gottes“ ist an ihre Stelle getreten. Der „Finger Gottes“ hat ihrer Macht ein Ende gesetzt und diesen Menschen eben dadurch das „Reich Gottes“ eröffnet – Bilder, Metaphern für das falsche, das verkehrte Leben schlechthin auf der einen Seite und für die wahre, echte, richtige und einzig menschengemäße Existenzweise andererseits. Dadurch, dass sie der geradezu dämonischen Macht einer Welt-Wahrnehmung, die diese als bloße Sache, als Fremdkörper erscheinen lässt, und all der entfremdenden Verhaltensweisen, die sich daraus ergeben, jetzt nicht mehr ausgeliefert sind, haben sie ihr Menschsein wiedergefunden. Weil sie jetzt – endlich – nicht mehr isoliert von ihrer Mitwelt existieren müssen, sind sie nun (wieder) in der Lage, weltverbunden und damit richtig zu leben. Und genau diese weltverbundene Existenzweise ist nichts anderes als die Teilhabe am „Reich Gottes“, und zwar voll und ganz.

Jetzt sind diese Menschen „selig“ – Jesus gebraucht dieses Wort bekanntlich in seiner Seligpreisung der Armen –, „selig“, weil sie nun wirklich leben, das Leben genießen, es feiern, es wirklich leben können. Denn jetzt ist die Voraussetzung endlich (wieder) gegeben: Ihr Leben vollzieht sich im intensiven Kontakt, in Kooperation, in einer dieses Leben als Leben kennzeichnenden, es erst als ein solches ausmachenden Weltverbundenheit. Die tausend Fäden, die sie mit ihr verbinden, sind jetzt wieder intakt. Die Menschen finden wieder zum richtigen Leben zurück, jesuanisch gesagt: „Das Reich Gottes hat sie erreicht.“

Wer in das „Reich Gottes“ eingetreten ist – und dies muss die grundlegende Erfahrung Jesu gewesen sein und ist es nun auch für andere Menschen geworden –, ist in der Lage, diese von den „Dämonen“ zerrissenen Fäden auch bei anderen wieder neu zu knüpfen – durch ihr Beispiel vielleicht, aber eventuell auch durch eine konkrete Intervention, etwa indem man nicht zurückschlägt, wenn der andere genau damit felsenfest gerechnet hat, sondern ihm „die andere Wange hinhält“ (vgl. Kapitel 28). Diese aus der eigenen Zugehörigkeit zum Reich Gottes freigesetzte Kraft ist dann beziehungsweise könnte dann zum „Finger Gottes“ werden, zur vielleicht einzigen, diesen „Dämonen“ tatsächlich überlegenen, die von ihnen bislang „besessenen“ Menschen heilenden Kraft.

Leuchtend klar ist jedenfalls – und genau darauf will Jesus hinaus, das könnte überhaupt der Grund seiner Klarstellung sein: Weil dieser „Finger Gottes“ wirksam ist, weil das falsche Leben tatsächlich reversibel ist, weil die Menschen, die er anspricht, dies offensichtlich selbst erfahren haben, liegt die Schlussfolgerung doch auf der Hand: Das richtige Leben, nämlich ein Leben in Verbundenheit mit der Welt und nicht mehr isoliert von ihr, ist möglich. Und damit steht für den Menschen, der so lebt, nichts mehr aus. Das Reich Gottes hat ihn erreicht, zum einen, weil er selbst wieder zu einem guten Leben zurückgefunden hat, zum anderen, weil dies eben dadurch möglich wurde, dass er sich jetzt der Welt wieder öffnen, sie in seine Existenz miteinbeziehen kann.

Und genau dies besagt ja der heute so schwer verständliche, missverständliche oder befremdliche und doch so schwer durch einen anderen zu ersetzendem Begriff „Reich Gottes“. Er beinhaltet, dass sich durch das „Austreiben der Dämonen“ nicht nur die individuelle Existenz verändert, ja erneuert hat, sondern auch die Welt in einem ganz neuen Licht erscheint. Sie ist nicht mehr Außenwelt, Objekt, letztlich Gegenstand, sondern sie ist zur Mitwelt geworden, ist jetzt von existenzieller Relevanz. Individuum und Welt lassen sich nicht mehr trennen, eine menschenwürdige Existenzweise ist von der Würdigung und Würde der Welt nicht mehr ablösbar. Somit heilt die mit dem „Austreiben der Dämonen“ verbundene Reich-Gottes-Erfahrung nicht nur den Menschen, sondern nimmt die Welt in diesen heilsamen Prozess mit hinein.

Objektiv feststellbar ist die Gegenwart des Reiches Gottes nicht. Darauf will Jesus denn auch gerade nicht hinaus. Aber es ist erfahrbar, zum Beispiel dann, wenn die dafür ausschlaggebende Weltverbundenheit dadurch wiederhergestellt worden ist, dass die Macht der sie bislang torpedierenden Konventionen oder Verhaltensweisen gebrochen werden konnte. Man erfährt das Reich Gottes nicht in der Theorie, nicht auf objektiv-rationale Weise, nicht über den Kopf, sondern immer nur im Zuge eigener Beteiligung, dem Dabeisein der ganzen eigenen Person. „Reich Gottes“ realisiert sich in und durch diese neue, diese „kernsanierte“ Existenzweise, durch den mit ihr unmittelbar verknüpften völlig erneuerten, ja überhaupt erst wieder hergestellten, zum Fließen gebrachten Weltbezug. Wer so lebt, wer dazu befreit ist, der nimmt es wahr: Reich Gottes – jetzt!

 

Nota bene

 

Zum Schluss zur Erinnerung, damit es nicht in Vergessenheit gerät, noch ganz kurz dies: Um zu einer solchen, wie ich meine, in sich stimmigen, plausiblen, mit den bisher behandelten Jesusworten kompatiblen Deutung der ganz neuen Sichtweise Jesu zu gelangen, war es wiederum unabdingbar, auch dieses Jesuswort strikt von seinem Kontext zu lösen, in den es erst nachträglich eingebaut worden ist. Allerdings könnte die in dem Jesuswort erwähnte Austreibung der Dämonen durchaus die spätere Bildung jener Wundererzählungen oder der kurzen summarischer Notizen derartiger Exorzismen angeregt haben, die von Menschen vorgenommen worden sind, die die Dämonen im damals landläufigen Sinn verstanden haben. Entsprechend dem „christologischen Evangelium“, dem Leitgedanken der neutestamentlichen Evangelien, also dem Glauben an Jesus als den Christus und Gottessohn, dienten sie dem Zweck, seine wunderbare, allen anderen „Mächten“ überlegene Hoheit zu unterstreichen. Auf diese Weise sorgten sie allerdings gleichzeitig dafür, dass sich „normale“ Menschen bei der Erwähnung der nicht in der bisher üblichen Weise zu verstehenden Dämonen etwa in unserem Text selbst gar nicht angesprochen oder gar betroffen fühlten.

Claus Petersen

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