Kapitel 24

 

RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT

DIE WELT-RELIGION JESU

BASISKURS BASILEIOLOGIE

 

 

 

 

„Wer groß sein will bei euch…“

Im Füreinander und Miteinander erfüllt sich unser Menschsein (Markus 10,43b–44)

Das neunte der 21 Jesusworte

 

Das nächste und zugleich das letzte Jesuswort, das uns das Markusevangelium überliefert hat, besteht aus zwei inhaltlich und sprachlich fast identischen Sätzen. Wieder begegnet uns die poetische Stilfigur des Parallelismus: Zwei Sätze bilden ein Satzpaar, das heißt, sie sind sprachlich und inhaltlich sehr eng aufeinander bezogen, um der in ihnen enthaltene Aussage Nachdruck zu verleihen. Auch hier unterstreicht eine ausgesprochen sorgsame Formulierung das Gewicht und die Bedeutung, die Jesus dieser Aussage beimisst.

 

Wer groß sein will bei euch, der soll euer Diener sein,
und wer bei euch der Erste sein will, der soll der Sklave aller sein.

 

Thema dieses Jesusworts ist die Abkehr von einer zwar üblichen, tatsächlich aber üblen Verhaltensweise und die Hinwendung zu einer der bisherigen direkt entgegengesetzten Grundhaltung. Worauf sie hinausläuft, geht aus dem jeweils zweiten Satzteil hervor, der im Griechischen völlig gleichförmig gestaltet ist, wörtlich: „der soll euer Diener sein“ / „der soll aller Sklave sein“. Damit dieses Wort von jener unbedingt erforderlichen Umkehrung der Lebensorientierung unvergesslich in Erinnerung bleibt, wiederholt der zweite Satz nicht nur die Aussage des ersten, sondern steigert sie noch einmal und treibt sie auf die Spitze. Während zunächst noch eher allgemein und grundsätzlich der nach Ansehen Strebende aufgefordert wird, eine Haltung des Dienens einzunehmen, wird jetzt richtig Klartext geredet: Der, der ganz oben sein will, soll ganz unten stehen, wer der Erste sein will, der soll der Sklave aller sein – dass die Sprache Jesu an Deutlichkeit oft nichts zu wünschen übriglässt, ist uns ja schon bekannt. Einer offensichtlich auch damals weit verbreiteten und selbstverständlichen Lebenshaltung wird eine völlig andere Existenzweise gegenübergestellt. Und diese neue ist das glatte Gegenteil der alten. Es ist eine Wende um 180 Grad – und bedeutet ja auch tatsächlich nichts weniger als eine Zeiten-, eine Weltenwende!

Was macht den grundlegenden Unterschied dieser beiden Verhaltensweisen aus? Weshalb ist es von so entscheidender Bedeutung, diese Umkehr zu vollziehen? Warum kann keinesfalls das jeweils zuerst genannte und von vielen als „ganz natürlich“ angesehene Bestreben, sondern nur jene für viele noch nie wirklich in Betracht gezogene Haltung ein Ausdruck richtigen Lebens sein? Weil nur sie, sie allein, das auslebt und zum Ausdruck bringt, was unser Leben lebenswert, kostbar und eben „richtig“ sein lässt: die existenzielle Verbundenheit mit unserer Mitwelt beziehungsweise hier in besonderer Weise mit unseren Mitmenschen. Wiederum ist es also der Weltbezug, auf den es so entscheidend ankommt. Wirkliches Leben heißt Verbundenheit und konkretisiert sich im Füreinander. Wer groß, wer gar „der Erste“ sein will, der trennt sich von der Welt, sein Leben verdorrt und vertrocknet. Er möchte sich ja gerade von anderen Menschen, letztlich, besonders im zweiten Fall, von allen anderen Menschen abheben, sich von ihnen unterscheiden, ihnen gegenüber eine exklusive, sie ausschließende Stellung einnehmen oder sogar alle anderen übertrumpfen. Er nimmt sie nicht als Gefährt*innen, als seine Mitmenschen wahr, sondern betrachtet sie als Konkurrent*innen. Er isoliert sich ganz bewusst von ihnen.

Ganz anders die Existenzweise, die diesem Wort zufolge uns Menschen eigentlich entspricht und für ein gutes, richtiges Leben charakteristisch, ja unabdingbar ist: Hier steht man anderen beziehungsweise allen anderen Menschen nicht entgegen, sondern nimmt sie als Mitmenschen wahr. Und dies ist keine Denkweise, kein Gefühl, sondern ganz konkreter Lebensvollzug: Man ist für sie da sein. Gerade dies macht das gute, das richtige Leben aus. Es vollzieht sich im Miteinander und Füreinander. Es ist also nicht die formale Gleichheit, auf die Jesus hinauswill. Ihm schwebt nicht eine egalitäre Gesellschaft vor, in der alle zwar als Gleiche, aber gleichwohl unverbunden nebeneinanderher leben. Vielmehr geht es darum, den anderen, die andere nicht als Objekt, als Fremden, als Fremde zu betrachten, sondern in jedem Moment das Gemeinsame, Geschwisterliche, eben die Verbundenheit zu realisieren – und ihr zu entsprechen. Man will es nicht besser haben, man möchte nicht besser sein als andere, vielmehr soll es allen gut gehen. Genau diese Lebenshaltung und eben Lebensweise schenkt Daseinsfreude und Erfüllung, jesuanisch formuliert, auch wenn er hier den Begriff nicht explizit verwendet: Sie lässt uns am „Reich Gottes“ teilhaben, ist so etwas wie „der Himmel auf Erden“. Vielleicht kann man das Jesuswort dann auch so verstehen: Wer groß sein will, erweist seine Größe gerade darin, dass er für andere da ist. Und wer Erster sein will, ist es eben dann, wenn er „alle anderen“ unterstützt. –

 

Die Christologie ist mit diesem Jesuswort unvereinbar

 

„Wer groß sein will bei euch…“ – ob Jesus selbst auch einmal eine derartige Fantasie entwickelt hat, solche Gedanken aus eigener Erfahrung kannte? Zwar wendet er sich in diesem Wort an andere, aber es muss ihm klar gewesen sein, dass sich aus seiner völlig neuen Sichtweise dessen, was er „Reich Gottes“ nannte, durchaus eine persönliche Sonderstellung ableiten ließe. Die Kirche, das Christentum, ja bereits die Autoren des Neuen Testaments haben sie ihm denn auch in geradezu exklusiver Weise zuerkannt (allerdings nicht seiner Reich-Gottes-Botschaft wegen). Er selbst aber hätte ein solches Ansinnen mit Sicherheit weit von sich gewiesen, denn es steht außer Frage, dass für ihn das, was er hier in großer Eindringlichkeit denen, die sich selbst von anderen abheben möchten, fast schon gebietet – und zwar, damit sie der Teilhabe am Reich Gottes nicht verlustig gehen –, auch für ihn selber gilt. Mit diesem Wort vom Dienen, vom Füreinander-da-Sein, entzieht er selbst der Christologie, also der Lehre, er sei „Gottes eingeborener Sohn, unser Herr“, an den es zu glauben gelte, den Boden. Vielmehr ist er unser Bruder. Seine Worte werden nur dann zu uns sprechen, wenn wir sie als Worte eines solchen hören, wenn sie uns auf der Ebene der Geschwisterlichkeit erreichen, als Worte, die „von Mensch zu Mensch“ gesprochen sind und eben nicht „von oben herab“.

 

Das Jesuswort in seinem jetzigen Erzählzusammenhang

 

Auch dieses Jesuswort ist in einen Kontext eingebaut worden, der seine Grundsätzlichkeit und Leuchtkraft eher einschränkt, sie dimmt anstatt sie zu unterstreichen und vor Schattenwürfen zu bewahren. Vielleicht ist er nachträglich aus dem Jesuswort vom Dienen statt vom Groß-Sein-Wollen heraus konstruiert worden. Ausgangspunkt ist jetzt ein angeblicher Konflikt unter den zwölf Jüngern: Jakob und Johannes bitten Jesus, einst in der himmlischen Herrlichkeit die Ehrenplätze zu seiner Rechten und seiner Linken einnehmen zu dürfen. Die übrigen Jünger sind darüber empört, worauf Jesus sie nach der Darstellung des „Markus“ daran erinnert, dass die Mächtigen ihre Völker unterdrücken, aber „so ist es nicht bei euch“. Hier schließt unmittelbar das echte Jesuswort an, sodass man den Eindruck gewinnt, es betreffe lediglich die Jünger beziehungsweise die spätere christliche Gemeinde, die hier wahrscheinlich schon im Blick ist und demnach eine Kontrastgesellschaft zur übrigen Welt bilden solle. Tatsächlich aber bezieht es sich auf die gesamte Menschheit.

Leider endet der gesamte Erzählzusammenhang aber auch nicht wenigstens mit dem Jesuswort und damit, von der nachträglichen Einschränkung auf die Jüngergemeinschaft einmal abgesehen, mit den Verhältnissen in der Welt, die unter einem ganz anderen Vorzeichen zu stehen hätten. Ähnlich wie wir es schon bei dem Jesuswort zum Sabbat festgestellt haben, wurde abschließend auch an dieser Stelle Jesus ein Wort in den Mund gelegt, in dem seine ganz besondere Funktion als Menschensohn im Zentrum steht und das nun als krönender Abschluss und eigentliches Ziel des ganzen Abschnitts erscheint: „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld zugunsten vieler.“ Niemals hätte sich der historische Jesus – was ja seinen eigenen, eben geäußerten Worten vollkommen zuwiderliefe – mit einem exklusiven Ehren- beziehungsweise Hoheitstitel geschmückt, der ihn von allen anderen Menschen unterscheidet. Um einen solchen handelt es sich aber bei dem Begriff „Menschensohn“ – im zeitgenössischen Judentum wurde er als eine himmlische Erlösergestalt erwartet. Außerdem nimmt Jesus hier die spätere Deutung seines Todes als eines Sühnegeschehens vorweg, sodass der Eindruck erweckt wird, sie ginge auf ihn selbst zurück – ein ungeheuerlicher, im Neuen Testament allerdings nicht einmaliger Vorgang. Wieder beobachten wir, wie das jesuanische Evangelium von dem christologischen und hier auch noch von dem soteriologischen „Evangelium“ an den Rand gedrängt, ja ausgehebelt wird. In der Lutherübersetzung wird diese Tendenz noch dadurch unterstrichen, dass nicht etwa das Jesuswort, sondern das ihm erst nachträglich, woran in der neutestamentlichen Exegese kein Zweifel besteht, zugeschriebene Lösegeldwort fett gedruckt und damit noch einmal in besonderer Weise hervorgehoben ist.

 

Noch einmal das Jesuswort selbst und für sich allein betrachtet

 

Wir stellen das Jesuswort noch einmal heraus: Konkurrenz und Wettbewerb mögen spannend und herausfordernd sein, immer aber produzieren sie Sieger und Verlierer, vereinen nicht, sondern trennen, rufen Aggression und Gewalt hervor. Wir Menschen gehören jedoch existenziell und essenziell mit anderen Menschen und mit unserer ganzen Mitwelt zusammen. Nicht dadurch also, dass wir uns voneinander abheben und gegenüber anderen herausheben, sondern im Füreinander und Miteinander erfüllt sich unser Menschsein. Diese zentrale Rückerinnerung Jesu werden wir im nächsten Kapitel noch ein wenig weiterverfolgen.

Claus Petersen

Eine PDF-Datei dieses Kapitels finden Sie hier.


RSS