Kapitel 28

RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT

DIE WELT-RELIGION JESU

BASISKURS BASILEIOLOGIE

 

 

 

 

„Dem, der dich auf die Wange schlägt…“

Vom Hinhalten der anderen Wange (Matthäus 5,39b / Lukas 6,29a)

Das elfte der 21 Jesusworte

 

Wie schon das zuletzt behandelte Jesuswort (Kapitel 26) ist auch das folgende in seinem jetzigen Kontext Teil der sogenannten Bergpredigt (Matthäus 5–7) beziehungsweise der sogenannten Feldrede (Lukas 6,17–49), zwei ähnliche Sammlungen von Worten, mit denen Jesus, wie ihn die Evangelisten darstellen, auf einem Berg beziehungsweise auf einem ebenen Platz im Beisein seiner Jünger einer großen Volksmenge seine Lehre verkündigt. In diesen Kompositionen von „Matthäus“ und „Lukas“ dürften nur diese beiden Sätze, also die Seligpreisung der Armen und das Wort vom Hinhalten der anderen Wange, tatsächlich auf Jesus selbst zurückgehen.

Schon die sprachliche Gestaltung und erst recht der Inhalt dieses ursprünglich eigenständigen Satzes deuten auf seinen jesuanischen Ursprung hin. Es handelt sich wiederum um ein ausgesprochen konkretes, anschauliches Wort, um einen höchst überraschenden Vorschlag, ja geradezu um eine Anweisung, und zwar eine ziemlich riskante und radikale:

 

Dem, der dich auf die Wange schlägt, halte auch die andere hin.

 

Mit diesen Worten wird sie uns im Lukasevangelium überliefert. Leichte sprachliche und grammatikalische, inhaltlich aber belanglose Abweichungen im Matthäusevangelium gehen auf Besonderheiten des Verfassers zurück. So verwendet „Matthäus“ für „schlagen“ und „hinhalten“ ein anderes, aber bedeutungsgleiches griechisches Wort und spricht genauer von der „rechten“ Wange, auf die der Schlag erfolgt. Und „Matthäus“ ist es wohl auch gewesen, der dem Wort den Satz voranstellt und ihn ohne Weiteres Jesus in den Mund legt: „Ich aber sage euch: Leistet dem Bösen keinen Widerstand.“ (Vers 39a) Mit jenem „Ich aber sage euch“ lässt er Jesus mehrmals (in Vers 22, in Vers 28, in Vers 32, in Vers 34 und nach Vers 39 noch in Vers 44) ein mit den Worten „Ihr habt gehört, dass (zu den Alten) gesagt ist“ eingeleitetes alttestamentliches Gebot oder Verbot (in unserem Fall ist es der Satz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ aus 2. Mose 21,24) überbieten und damit ersetzen – eine Konstruktion, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den judenchristlichen Hintergrund des Matthäusevangeliums zurückgeht.

Wenn man das Wort aus seinem (sekundären) Kontext löst und es statt dessen auf die Jesusbotschaft von der Möglichkeit eines ganz anderen neuen, guten, richtigen Lebens bezieht, kann es unmöglich als eine Aufforderung verstanden werden, einen gewaltsamen Angriff rein passiv zu erdulden. Der Gewalt würde auf diese Weise keinerlei Einhalt geboten, vielmehr ihr Spielraum geradezu grenzenlos erweitert. Jesus müsste genau das Gegenteil gewollt und auch für möglich gehalten haben. Und genau darum geht es hier.

Schon die Struktur des Satzes gibt uns einen ersten Hinweis. Er beginnt nicht etwa mit den Worten: „Wenn dich einer auf die Wange schlägt“, sondern mit „dem, der dich auf die Wange schlägt“. Er setzt also nicht mit dem ein, der geschlagen wird, sondern mit dem, der den Schlag ausführt. Auf ihn soll unser Augenmerk gerichtet sein, will sagen: Auch ihm soll eine andere Existenzweise eröffnet werden, und jetzt hat sich eine Gelegenheit aufgetan, ihn aus den Fängen der Gewalt zu befreien.

Inwiefern? Wie soll das geschehen? Besteht dazu, noch dazu in einer solchen Situation, überhaupt eine Möglichkeit? Sicher hatte die Gewaltausübung eine Vorgeschichte. Darum geht es hier aber nicht. Jetzt ist es zur Gewalt gekommen. Ist also alles zu spät? Nein, Jesus sieht jetzt, gerade jetzt eine Chance, dem Neuen, dem Richtigen, der „Reich-Gottes-Existenz“ zum Durchbruch zu verhelfen.

Um es zu wiederholen und noch einmal zu unterstreichen: Nicht die Situation dessen, der geschlagen worden ist, steht für ihn an erster Stelle. Diese Person, die er anspricht, hat ja bereits teil an dem neuen, guten, richtigen Leben. Sie ist, auch wenn sie jetzt Gewalt erfährt, die stärkere, die überlegenere. Der Schlag ändert daran nichts, im Gegenteil: Durch ihn zeigt sich vielmehr, dass es dem, der ihn ausführt, nicht gut geht. Gewaltanwendung ist auch für den Gewalttäter selbst nicht das, was er sich wünscht, sondern eher ein Ausdruck von Hilflosigkeit. Der, der schlägt, hat nicht etwa jetzt gesiegt, sondern eben durch dieses Verhalten gezeigt, wie sehr er noch in der alten, entfremdeten Existenzweise gefangen ist.

Wie aber könnte er – auch jetzt noch – das Neue erfahren? Wie könnte ihm – auch nach diesem Schlag, vielleicht gerade danach – noch das andere, das gute Leben aufgehen? Was erwartet er denn jetzt von dem, den er geschlagen hat? Doch dass er sich verteidigt, dass er sich schützt – oder dass er zurückschlägt. Und genau darin, in dieser Erwartung, besteht jetzt die Chance! Gerade in diesem Stadium der Auseinandersetzung öffnet sich – eventuell! – ein Einfallstor für das Neue. All diese aus dem Blickwinkel des Alten ganz normalen Reaktionen nämlich kann derjenige unterlaufen, der dem von Konkurrenzkampf und Konfrontation beherrschten Regime nicht mehr unterworfen ist. Weil er im „Reich Gottes“ zu Hause ist, hat er jetzt ganz andere, ganz neue Möglichkeiten. Weil er sich auch mit dem Gewalttäter verbunden fühlt, kann er den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt, in dem jener Angreifer gefangen ist, durchbrechen. Er ist zu einem Verhalten fähig, mit dem der andere nicht rechnet, gar nicht rechnen kann. Er ist in der Lage, auf den empfangenen Schlag auf eine Weise zu reagieren, die dem Gewalttäter völlig fremd ist, weil so etwas in seiner Welt einfach nicht vorkommt.

Und deshalb muss nicht das geschehen, womit der, der geschlagen hat, jetzt rechnet. Der Geschlagene hält weder seine Hände schützend vors Gesicht noch gibt er den Schlag zurück – vielmehr bietet er dem Gegenüber seine andere Wange dar. Sicher: Er geht ein großes Risiko ein. Auszuschließen ist es nicht, dass der andere die Gelegenheit nutzt und ein zweites Mal zuschlägt. Aber sehr wahrscheinlich ist es nicht. Viel eher ist er völlig überrascht, verwirrt, kommt aus dem Takt. Die „paradoxe Intervention“ seines Gegenübers hat den Teufelskreis zumindest angehalten. Damit hat er dem, der ihn geschlagen hat, Gelegenheit gegeben, nicht ein zweites Mal zuzuschlagen, sondern nun ebenfalls innezuhalten. Er hat ihn mit der Möglichkeit überrascht, ihn zumindest für einen kurzen, aber vielleicht alles entscheidenden Augen-Blick anzusehen. Vielleicht geht ihm eben in diesem Moment auf, veranlasst durch diese Erfahrung „wie aus einer anderen Welt“, dass der, den er geschlagen hat, kein Fremder ist, kein Objekt, dessen er sich erwehren muss, nicht Feind, sondern Bruder.

Der, der geschlagen worden ist und nicht zurückschlägt, zeigt sich dem Schlagenden als einer, der sich weigert, sein Feind zu sein. Er ist dem Teufelskreis der Gewalt nicht mehr unterworfen und will jetzt auch den anderen aus der Gewaltspirale herausholen. Hat er durch das Risiko, das er eingegangen ist, nicht gezeigt, dass es ein Leben gibt jenseits von Kampf und Konkurrenz? Dass es andere Möglichkeiten gibt, mit Konflikten umzugehen? Jetzt müssen sie nicht trennen, spalten, sind keine gordischer Knoten mehr, die nur noch mit dem Schwert „gelöst“, das heißt durchschlagen werden können. Vielmehr bieten gerade sie die Gelegenheit, das Miteinander neu und besser zu gestalten.

Claus Petersen

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