Zum 4. Juni 1989

Tian’anmen-Massaker: Die chinesische Armee richtet ein Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens (chinesisch: Tian’anmen Guangchang, deutsch: Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens) im Zentrum Pekings an, nachdem dort zunächst Studenten und später Millionen Bürger aus allen gesellschaftlichen Schichten für mehr Demokratie demonstriert hatten; liùsì (= 4. Juni), wie die Chinesen dieses Massaker nennen, wird offiziell verschwiegen – und gilt doch als Wendepunkt in der Geschichte Chinas.

“Es waren die größten, längsten, politischsten, fröhlichsten, verzweifeltsten, optimistischsten, kurz: echtesten Demonstrationen in der Volksrepublik China – bis die Volksbefreiungsarmee dem befreiten Denken und Reden des Volks ein Ende machte.” (Karl Grobe in: Frankfurter Rundschau vom 7. Juni 2013) Einige Hundert Menschen starben. Die genaue Zahl ist bis heute ungewiss. Das chinesische Rote Kreuz sprach einst von 2600 Toten. Tausende wurden verletzt und inhaftiert. Das Massaker ist bis heute Tabu in China.

Die Proteste begannen am 22. April 1989. Auslöser war der Tod des geschassten Parteichefs Hu Yaobang am 15. April 1989, der für politische Reformen eingetreten war.

Der „Tank Man„, wie ihn die amerikanische Presse nannte, wurde zur Ikone des Tiananmen-Massakers. Aus einem kleinen, am 5. Juni 1989 aufgenommenen Film, den CNN damals in die Welt schickte, sieht man einen Mann vor einer Reihe von Panzern stehen. Als der erste versucht, an ihm vorbeizufahren, macht der Mann die Bewegung mit und stellt sich weiterhin vor ihn. Keiner der dahinter stehenden Panzer fährt an ihm vorbei. Sie stellen sich bei jeder Richtungsänderung hinter den ersten. So bilden sie immer eine einzige Reihe. Der Demonstrant besteigt den Panzer. Er spricht kurz mit dem Fahrer. Dann steigt er wieder hinunter, steht jetzt neben dem Panzer, gibt gewissermaßen den Weg frei. Der Panzer aber rührt sich nicht. Dann tut er es doch. Der Mann stellt sich wieder vor ihn. So endet der Film.

„Der Tiananmen-Platz wurde zum Symbol aufkeimender Zivilcourgage. Es war die bislang größte Herausforderung für Chinas Kommunisten. Im April 1989 versammelten sich Pekinger Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens, um des Todes des Reformers Hu Yaobang zu gedenken. Die zunächst spontanen Demonstrationen wuchsen zu einer Massenbewegung. Hunderttausende Studenten, Intellektuelle, Journalisten und später auch Arbeiter versammelten sich auf dem riesigen Platz im Zentrum der Hauptstadt, um gegen Korruption und für mehr Freiheit und Demokratie zu demonstrieren. Obwohl die Studenten von einer ‚patriotischen Bewegung’ sprachen und viele eine Reform innerhalb des Systems befürworteten, geriet die KP-Regierung um Deng Xiaoping immer stärker unter Druck. Journalisten in den Staatsmedien wehrten sich gegen die Zensur und forderten Meinungsfreiheit. Arbeiter organisierten sich in unabhängigen Gewerkschaften. Zum ersten Mal seit Gründung der Volksrepublik 1949 wurde offen über das Ende der KP-Herrschaft diskutiert.
Die KP-Führer, die anfangs mit den Studentenführern verhandelt hatten, beendeten den Protest mit einem brutalen Militärmassaker. In der Nacht zum 4. Juni 1989 überrollten Panzer der Volksbefreiungsarmee die Barrikaden, die Bürger zum Schutz der Studenten errichtet hatten, und schossen mit Maschinengewehren in die Menge. Einigen hundert, möglicherweise tausende Studenten und Zivilisten wurden bei dem Massaker getötet. Einigen der Studentenführer gelang, zum Teil mit Hilfe westlicher Diplomaten, die Flucht ins Ausland. Andere wurden festgenommen, in Schauprozessen verurteilt und für Jahre ins Gefängnis gesteckt. Die KP, die einst als Befreier der Chinesen angetreten war, hatte ihre Unschuld verloren. ‚Eine schwarze Sonne erschien am Himmel meines Heimatlandes’, sagte der Studentenführer Wuer Kaixi, der heute auf Taiwan im Exil lebt.
In China ist der Militäreinsatz bis heute ein Tabu. Wenn das Ereignis erwähnt wird, sprechen Chinesen nur von ‚liu si’ – übersetzt heißt das ‚sechs vier’ und steht als Abkürzung für den 4. Juni 1989, den Tag des Massakers. Offiziell gelten die friedlichen Demonstrationen der Studenten als ‚Konterrevolution’, die es niederzuschlagen galt. Eine Diskussion über die Ereignisse und politischen Hintergründe von 1989 ist verboten. Medien dürfen nicht darüber berichten, Webseiten mit Informationen über das Massaker werden blockiert. Selbst die Zahl der Getöteten gilt als Staatsgeheimnis. Die meisten Hinterbliebenen und Angehörigen wissen bis heute nicht, wie ihre Familienmitglieder ums Leben kamen.“ (Harald Maass im Magazin der Frankfurter Rundschau vom 10. Februar 2007)

Ding Zilin, pensionierte Universitätsprofessorin, deren 17-jähriger Sohn damals ums Leben kam, gründete die Gruppe „Mütter von Tiananmen“, die aus etwa 130 Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtlern besteht. Bei den Mitgliedern handelt es sich überwiegend um Frauen, deren Kinder oder andere Verwandte während des Tiananmen-Massakers am 3. und 4. Juni 1989 ums Leben kamen oder verletzt wurden. Jedes Jahr fordern die Mütter die chinesischen Behörden auf, den Familien der Opfer zu erlauben, in der Öffentlichkeit zu trauern, die strafrechtliche Verfolgung der Opfer und ihrer Familien einzustellen und all diejenigen freizulassen, die im Zusammenhang mit den Demonstrationen von 1989 inhaftiert worden sind. Eine Antwort bekommen sie nicht. Die Mitglieder werden wegen dieser Forderungen schikaniert, diskriminiert und willkürlich inhaftiert.
Die chinesischen Behörden gestatteten es den Angehörigen zunächst nicht, öffentlich um die Getöteten zu trauern. Im Jahr 2007 jedoch durften Ding Zilin und 20 weitere Personen zum ersten Mal bei einer kurzen Gedenkfeier in der Nähe des Platzes des Himmlischen Friedens vor den Bildern ihrer Kinder Kerzen anzünden. 2014 jedoch durften Ding Zilin und ihr Mann Jiang Peikun während des Jahrestages erstmals nicht einmal in Peking sein. Beide wurden in der ostchinesischen Stadt Wuxi festgehalten und dürfen erst nach dem 4. Juni zurückkehren, berichtet Human Rights Watch.

Der Chinese Fang Zheng, der zwei nationale Rekorde im Diskuswerfen hält, darf an den Paralympischen Spielen 2008 in Peking nicht teilnehmen, weil er ein lebender Beweis für das Massaker vom Juni 1989 auf dem Tiananmen-Platz ist. Ein Panzer hat ihn überfahren und ihm beide Beine zerquetscht. (amnesty-journal 06-07/2008)

Jahrelang war Hongkong die einzige Stadt, in der noch in großen öffentlichen Mahnwachen der Ereignisse gedacht wurde. So versammelten sich trotz Regens am Abend des 4. Juni 2018 in der autonom regierten chinesischen Sonderverwaltungszone viele Tausend Menschen mit Kerzen im Victoria Park. Seit dem Erlass des sogenannten Sicherheitsgesetzes im Jahr 2020 sind Gedenkveranstaltungen in ganz China verboten. Gleichwohl setzten sich in jenem Jahr Tausende darüber hinweg. 2021 ist ein Wendepunkt in der Erinnerungskultur Hongkongs: Wer in diesem Jahr die Gedenkveranstaltung besucht oder auch nur im Internet bewirbt, muss mit bis zu fünf Jahren Haft rechnen. Hunderte Menschen wurden seitdem festgenommen und angeklagt.

Der gesamte öffentliche Raum Hongkongs wurde bereits von sämtlichen Zeichen gesäubert, die an die Verbrechen der Kommunistischen Partei erinnern. In der Nacht zum 23. Dezember 2021 ließ die Hong Kong University (HKU) die von dem dänischen Künstler Jens Galschiøt gefertigte „Säule der Schande“, eine Statue zum Gedenken an die blutige Zerschlagung der Tiananmen-Proteste, abbauen. Sie war ein Vierteljahrhundert lang auf dem Campus installiert.

Am 4. Juni 2022 hat die katholische Diözese Hongkongs erstmals auf ihre traditionelle Gedenkmesse verzichtet, um an die Toten von 1989 zu erinnern. Nur wenige Wochen zuvor war ihr Kardinal Joseph Zen als vermeintliche „Bedrohung für die nationale Sicherheit“ vorübergehend festgenommen woeden. Der hohe Geistliche, der bereits 90 Jahre alt ist, hatte Demokratie-Aktivisten rechtlichen Beistand gegeben.

 

Literatur:

  • Liao Yiwu, Die Kugel und das Opium. Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012

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