Kapitel 42

RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT

DIE WELT-RELIGION JESU

BASISKURS BASILEIOLOGIE

 

 

„Ich will diesem Letzten dasselbe geben wie dir.“

Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Matthäus 20,1–14)

Das achtzehnte der 21 Jesusworte

 

Noch ein weiteres Reich-Gottes-Gleichnis findet sich nur im Matthäusevangelium (auch hier hat „Matthäus“ den Begriff „Reich Gottes“ durch „Reich des Himmels“ ersetzt, vgl. Kapitel 26). Es beginnt zwar mit denselben Worten wie das Gleichnis vom Schatz im Acker, ist aber nicht wie jenes eine Metapher, also nicht wörtlich, sondern im übertragenen Sinn zu verstehen, sondern eine Beispielerzählung. Sie schildert, und zwar ganz konkret, was sich ereignen kann, wenn jemand am Reich Gottes teilhat, also seine Mitwelt in einer ganz anderen Weise wahrnimmt als üblich und sich deshalb auch ganz anders verhält als erwartet.

 

Das ‚Reich Gottes‘ gleicht einem Gutsbesitzer, der gleich am frühen Morgen hinausging, um Arbeiter für seinen Weinberg anzuwerben. Nachdem er mit den Arbeitern um einen Tageslohn von einem Denar übereingekommen war, schickte er sie in seinen Weinberg. Um die dritte Stunde ging er wieder hinaus und sah andere auf dem Marktplatz stehen, die keine Arbeit hatten. Er sagte zu ihnen: „Geht auch ihr in den Weinberg. Ich werde euch geben, was gerecht ist.“ Und sie gingen hin. Um die sechste und um die neunte Stunde ging er nochmals hinaus und tat genauso. Als er um die elfte Stunde hinausging, fand er andere dastehen und sagt zu ihnen: „Was steht ihr hier den ganzen Tag ohne Arbeit?“ Sie sagen zu ihm: „Weil uns niemand angeworben hat.“ Er sagt zu ihnen: „Geht auch ihr in den Weinberg.“

Als es Abend geworden war, sagt der Weinbergbesitzer zu seinem Verwalter: „Rufe die Arbeiter und zahle ihnen ihren Lohn aus. Beginne bei den Letzten bis zu den Ersten.“ Da kamen die, die um die elfte Stunde eingestellt worden waren, und erhielten jeweils einen Denar. Als dann die Ersten kamen, meinten sie, dass sie mehr erhalten würden. Aber auch sie erhielten jeweils einen Denar. Als sie ihn erhielten, empörten sie sich über den Gutsbesitzer und sagten: „Diese Letzten haben eine einzige Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleichgemacht, die wir die Last des Tages und die Hitze ertragen haben.“ Er aber antwortete und sagte zu einem von ihnen: „Freund, ich tue dir kein Unrecht. Bist du nicht um einen Denar mit mir übereingekommen? So nimm das Deine und geh. Ich will diesem Letzten dasselbe geben wie dir.“

 

Die Erzählung besteht aus zwei etwa gleich langen Teilen. Der erste Abschnitt schildert die Anwerbung von Arbeitern für die augenblicklich anstehende Weinlese. Sie erfolgt mehrmals an diesem einen Tag: „gleich am frühen Morgen“, also wahrscheinlich um sechs Uhr, sodann um neun, um zwölf, um 15 und schließlich sogar noch einmal um 17 Uhr. Lediglich mit der ersten Gruppe vereinbart der Weinbergbesitzer eine konkrete Lohnsumme: einen Denar, was dem damals üblichen existenzsichernden Tageslohn entspricht. Von der Mitte des 1. Jahrhunderts v. d. Z. an war er das durchschnittliche Tageseinkommen eines Lohnarbeiters. Bei der zweiten Gruppe heißt es nur mehr: „Ich werde euch geben, was gerecht ist“. Gleiches gilt für die dritte und vierte Gruppe, während bei der letzten von der Bezahlung gar nicht mehr die Rede ist. Diese Menschen können froh sein, überhaupt noch eine Beschäftigung gefunden zu haben. Wichtig ist hier offensichtlich die Feststellung ihrer Arbeitswilligkeit, die sie auf die entsprechende Frage hin klar bejahen: Keinesfalls standen sie den ganzen Tag über nur untätig herum, es hat sie nur niemand angeworben – eine kleine Ungereimtheit, denn der Weinbergbesitzer muss diesen Menschen ja bei seinen früheren Anwerbungen schon begegnet sein.

Der zweite Teil der Geschichte schildert die Auszahlung des Arbeitslohns und ihre Folgen: den Protest der zuerst Eingestellten sowie die Antwort des Arbeitgebers. Die Entlohnung beginnt bei diejenigen, die lediglich eine Stunde gearbeitet haben – sie erhalten einen Denar. Die Bezahlung der Neun-, Sechs- und Dreistundenarbeiter wird übergangen, die Erzählung springt des Kontrastes wegen gleich zu den bereits um sechs Uhr morgens Eingestellten, also denjenigen, die nicht lediglich eine Stunde, sondern den ganzen Tag über, zwölf Stunden lang gearbeitet haben. Und auch sie erhalten jeweils einen Denar. Sie empfinden dies als eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Die Erzählung erreicht ihren dramatischen Höhepunkt: Die zuerst Angeworbenen sind aufs Äußerste empört. Wie kann ihnen der Gutsbesitzer denselben Lohn auszahlen wie jenen! Ganz selbstverständlich sind sie davon ausgegangen, dass für ein Mehr an Leistung auch ein Mehr an Entlohnung zu erwarten ist. Und genau dies ist denn auch der Kernsatz ihres Vorwurfs, mit dem sie nicht hinter dem Berg halten: „Du hast sie uns gleichgemacht.“

Und der Gutsbesitzer reagiert. Er antwortet, und zwar in einer höchst bemerkenswerten Weise. Das zeigt bereits sein erstes Wort: hetáire, „Genosse“, „Gefährte“, „Freund“, redet er den Beschwerdeführer an. Als ob er ihm den Arm um die Schulter legen möchte. Er reagiert nicht von oben herab, er geht nicht auf Abstand. Ganz im Gegenteil: Die Gemeinsamkeit mit seinem Gegenüber stellt er an den Anfang seiner Worte. Und doch verkennt er nicht den Grund des Zorns dieses Ganztagsarbeiters, der sich ungerecht behandelt fühlt, und geht darauf ein. Doch besteht dieser Vorwurf zu Recht? Bist du nicht um einen Denar mit mir übereingekommen?Genau dies ist der Fall gewesen. Wir erinnern uns: Nur mit denen, die bereits um sechs Uhr eingestellt wurden, ist eine konkrete Lohnsumme, nämlich ein Denar, vereinbart worden. Ein Unrecht ist ihm nicht geschehen. „So nimm das Deine und geh.“ Aber mit dieser formaljuristisch nicht zu widerlegenden Aussage und der Aufforderung, sich damit also abzufinden, endet die Antwort des Gutsbesitzers noch nicht. Er speist ihn mit der Erinnerung an die Abmachung am Morgen nicht einfach ab. Die Fortsetzung zeigt, dass er ihm zunächst einmal ein wenig den Wind aus den Segeln nehmen wollte. Denn natürlich ist ihm klar, dass der eigentliche Grund seiner Empörung darin besteht, dass er unter diesen Umständen trotzdem mehr erwartet hatte. Und so kommt er mit seinem letzten Wort noch einmal auf sein erstes Wort – Freund – zurück: „Ich will diesem Letzten dasselbe geben wie dir.“ Ganz zum Schluss noch einmal, auch im griechischen „Original“, die direkte Anrede des Beschwerdeführers: „wie dir“. Ist er denn ein anderer als „dieser Letzte“? Ist dieser denn nicht ein Mensch mit denselben Bedürfnissen „wie du“? Müsste ihm jetzt nicht klarwerden, dass dieses „dasselbe“ jetzt nicht mehr zwischen ihm und jenem Letzten steht, sondern sie beide miteinander verbindet?

Der Gutsbesitzer hat also die zuletzt Eingestellten nicht etwa mit den Zwölfstundenarbeitern gleichgemacht, sondern als Gleiche wahrgenommen. Ihre unterschiedliche Arbeitsleistung hat daran nichts geändert. Sie bleiben – die einen wie die anderen – Menschen, die durch ihre Arbeit die Mittel erwerben wollten, um gut und würdig zu leben. Darum geht es, um diese allen Menschen gemeinsamen und in etwa ähnlichen Bedürfnisse. Diese abzudecken, diese allen Menschen zu garantieren, dass ist die neue, der Teilhabe am Reich Gottes einzig gemäße Gerechtigkeit.

In der Beispielgeschichte deutete sich dieses neue Verständnis schon sehr bald an. Um sechs Uhr wird noch der übliche, auch von den Arbeitern als gerecht empfundene Lohn vereinbart: ein Denar. Den um neun Uhr und „genauso“ denen, die um zwölf und um drei Uhr noch eingestellt wurden, wird keine konkrete Lohnsumme mehr genannt. Anstelle dessen heißt es: „Ich werde euch geben, was gerecht ist“. Das aber heißt für den Weinbergbesitzer, wie sich später herausstellt, gerade nicht: „Jeder bekommt, was er verdient“, sondern: „Jeder bekommt, was er braucht“ – unabhängig vom Maß seiner Leistung. Sein Gerechtigkeitsverständnis ist ein ganz anderes als das der Ganztagsarbeiter. Letzteres richtet sich nach objektiven Tatsachen: Bezahlt wird nach Leistung, gewissermaßen „ohne Ansehen der Person“, wie es hier, anders als im üblichen positiven Sinn, heißen könnte. Doch der Gutsbesitzer sieht sie an, sieht ihre Bedürfnisse und handelt entsprechend.

Es muss der „Sauerteig“ des Reiches Gottes gewesen sein (Kapitel 36), der ihn dazu in die Lage versetzt hat. Und nun könnte es ja sein, dass dieser „Sauerteig“, der auch seine Worte und vor allem die Art und Weise, wie er sie äußert, überhaupt erst ermöglicht hat, weiterwirkt. Vielleicht verändert er auch die Haltung, die der Beschwerdeführer durch seinen Protest an den Tag legt. Dass ihm aufgeht, dass er mit seinem bisherigen, rein formal-objektiven Verständnis von Gerechtigkeit seinen Mitmenschen nicht gerecht wird. Dass auch er seine Arbeitskollegen, obwohl sie weniger geleistet haben als er, nicht auf ihre Arbeitsleistung reduziert, dass sie nicht unverbunden neben ihm stehen, sondern dass auch er sie – wie der Weinbergbesitzer ihn selbst – als „Freunde“ oder jedenfalls seine „Genossen“, seine „Gefährten“ wahrnimmt.

 

Spätere Erweiterungen

 

In späterer, nachjesuanischer Zeit hielt man die Antwort des Weinbergbesitzers auf den empörten Einwand des Zwölfstundenarbeiters offensichtlich für unzureichend und erweiterte sie durch zusätzliche Erklärungen, die aber auf einer völlig anderen Ebene liegen. Statt der Reich-Gottes-Perspektive ist es jetzt (auch) das Eigentumsrecht, mit dem der Arbeitgeber sein Verhalten erklärt, es damit aber auch jeder Nachfrage entzieht: „Kann ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will?“ (Vers 15a) Nicht mehr die Arbeiter sind es jetzt, die sein Handeln bestimmen – dass sie nämlich alle dasselbe erhalten sollen –, sondern die hier durch nichts in Frage gestellte Tatsache, dass er mit seinem Privatbesitz nach Gutdünken verfahren könne und dabei niemandem Rechenschaft schuldig sei. Für Vertreter des alten Systems klingt ein solcher Satz sicher sehr überzeugend: Niemand hat einem anderen irgendwelche Vorschriften darüber zu machen, was er mit seinem Besitz zu tun gedenkt. Der Weinbergbesitzer aber hat gerade nicht selbstherrlich gehandelt, auch wenn ihm dies aufgrund der Verfügungsgewalt über sein Eigentum möglich gewesen wäre. Er hat sich in seine Arbeiter hineinversetzt, er hat bei denen, die gegen sein Verhalten protestierten, um Verständnis geworben. Er war nicht von seiner Mitwelt isoliert, sondern ist mit ihr in Verbindung geblieben.

Auch der dann noch nachgeschobene moralisierende Satz geht an diesem entscheidenden Beweggrund völlig vorbei. Jetzt bringt der Gutsbesitzer auch noch die Güte ins Spiel, die ihn entsprechend habe handeln lassen, und unterstellt dem Fragenden schlicht und einfach Missgunst: Oder sieht dein Auge böse drein, weil ich gütig bin?“ (Vers 15b). Ausschlaggebend für das Verhalten des Arbeitgebers waren aber gerade nicht seine Güte und Barmherzigkeit, also individuell-subjektive Qualitäten, in deren Genuss die Arbeiter in diesem Fall rein zufällig gekommen wären, sondern eine grundsätzlich andere Sichtweise, die nicht nur ihm, sondern allen Menschen entspräche: dass er nämlich mit allen Arbeitern in gleicher Weise verbunden ist. Genau diese Haltung kennzeichnet seine Teilhabe am Reich Gottes und charakterisiert von Anfang an die erste und ursprünglich einzige Erwiderung des Weinbergbesitzers („Freund“). Dazu passt überhaupt nicht, dass er später angeblich den Beschwerdeführer moralisch herabsetzt, indem er ihm auch noch Neid vorwirft.

Beide Begründungen sind jeweils rein subjektiver Natur und beziehen sich nicht mehr auf das Verhältnis des Weinbergbesitzers zu den von ihm angestellten Erntehelfern. Der „einfache“ Wille zur Gleichbehandlung, der dem Verhalten des Weinbergbesitzers zu Grunde liegt, reicht jetzt nicht mehr aus beziehungsweise wird in seiner Bedeutsamkeit überhaupt nicht mehr gewürdigt. Dass gerade seine erste und einzige Antwort das jesuanische Evangelium vom Reich Gottes hier und jetzt zur Geltung bringt, tritt vollkommen in den Hintergrund, ja wird von den folgenden Worten praktisch übertüncht, denn jetzt wird der Abstand zwischen ihm und seinen Arbeitern betont beziehungsweise seine Güte dem verwerflichen, „sündigen“ Verhalten des Beschwerdeführers entgegengestellt. Der Weinbergbesitzer wird nicht mehr im Zusammenhang mit seinen Mitmenschen gesehen, sondern von ihnen abgehoben, ja über sie emporgehoben. Dies hat dann zu der, wenn man sich den ursprünglichen Sinn der Erzählung vor Augen hält, geradezu abwegigen These geführt, mit dem Weinbergbesitzer sei nicht ein Mensch, sondern in Wahrheit Gott gemeint. („So ist Gott, so gütig“, heißt es zum Beispiel bei Joachim Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 1970, 8. Auflage, auf S. 138 und auf der folgenden Seite zum Abschluss der Auslegung dieses Gleichnisses gleich noch einmal; für Matthias Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, Göttingen 2015, dem jüngsten Kommentar zu dieser neutestamentlichen Schrift, „steht in Mt 20 der Weinbergbesitzer für Gott“.)

Ohne den 15. Vers aber bliebe es bei dem Skopus, der von Anfang an in der Geschichte angelegt ist, nämlich die Auszahlung eines der Bedürftigkeit aller Arbeiter angemessenen, nicht leistungsabhängigen und deshalb für alle gleichen Geldbetrags. Handlungsleitend sind gerade nicht Recht oder Moral und ebenso wenig Großzügigkeit und Güte, sondern das angemessene Verhältnis zum Mitmenschen, die Realisierung der einfachen Tatsache, dass jeder Mensch mit dem auszustatten ist, was er braucht, unabhängig vom Maß seiner Leistung. Von dieser „Spielregel des Reiches Gottes“ möchte der Weinbergbesitzer gewissermaßen jeden Einzelnen derer, die sich empören, überzeugen. Er möchte sie loseisen von einer entfremdeten, unserer existenziellen Weltverbundenheit nicht angemessenen, allerdings bereits aufs äußerste verfestigten, ja bereits zur Selbstverständlichkeit verformten Denk- und Verhaltensweise.

‚Matthäus‘ fügte später dann noch den letzten Satz des vorangehenden Kapitels aufnehmenden ursprünglich eigenständigen (vgl. Markus 10,31; Lukas 13,30) Satz an: „So werden die Letzten Erste und die Ersten Letzte sein“ (Vers 16). Er verstand die Geschichte fälschlich eschatologisierend im Sinn einer Umkehrung der Reihenfolge am Jüngsten Tag, doch hat der Beginn der Auszahlung bei den zuletzt Eingestellten im Gleichnis rein erzähltechnische Gründe: Nur auf diese Weise erfahren die zuerst Angeworbenen, dass sie denselben Lohn erhalten haben wie diejenigen, die nur eine Stunde gearbeitet haben.

In einigen Handschriften wurden an diesen ‚matthäischen‘ Zusatz noch die Matthäus 22,14 entstammenden Worte „Denn viele sind berufen, wenige aber auserwählt“ angehängt. Jetzt wurde die Geschichte endgültig als Gerichtsgleichnis interpretiert, nämlich als Warnung vor der Zurückweisung derjenigen beim Endgericht, die dem Verhalten des Weinbergbesitzers, und das heißt hier: Gottes, widersprechen. Doch in dem jesuanischen Gleichnis werden die protestierenden zuerst Eingestellten gerade nicht verurteilt oder herabgesetzt und sie erhalten den vereinbarten Lohn.

Claus Petersen

Eine PDF-Datei dieses Kapitels finden Sie hier.


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