Kapitel 36

RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT

DIE WELT-RELIGION JESU

BASISKURS BASILEIOLOGIE

 

 

 

„… bis es ganz durchsäuert war“

Das Gleichnis vom Sauerteig (Matthäus 13,33/ Lukas 13,21)

Das fünfzehnte der 21 Jesusworte

 

Auf das Gleichnis vom Senfkorn (Kapitel 18) folgt sowohl im Matthäus- als auch im Lukasevangelium das Gleichnis vom Sauerteig. Dies gilt nicht für das Markusevangelium, das es auch an keiner anderen Stelle überliefert; es stammt also wahrscheinlich aus der Spruchquelle. ‚Matthäus‘ leitet es mit den Worten ein: „Ein anderes Gleichnis sagte er ihnen: Das Himmelreich gleicht einem Sauerteig …“ (den Begriff „Reich Gottes“ hat er wieder durch „Himmelreich“ ersetzt, vgl. Kapitel 26). Im Lukasevangelium heißt es anstelle dessen: „Und er sprach wieder: Womit soll ich das Reich Gottes vergleichen? Es gleicht einem Sauerteig …“. Das Gleichnis selbst wird in beiden Evangelien wortgleich wiedergegeben und lautet:

 

Das Reich Gottes gleicht einem Sauerteig, den eine Frau nahm und in drei
Sat Weizenmehl verbarg, bis es ganz durchsäuert war.

 

Dreh- und Angelpunkt des Gleichnisses ist wiederum das Reich Gottes, und zwar als eine in der Gegenwart wirksame dynamische Kraft. Jesus definiert es nicht, er beschreibt es nicht von außen, aus der Distanz heraus. Vielmehr versucht er in Worte zu fassen, wie es ist, was geschieht, wenn man an ihm teilhat. So bringt er es hier gleichnishaft mit einer Alltagshandlung in Zusammenhang, dem Brotbacken. Er vergleicht es mit dem Einbringen des Sauerteigs in das Weizenmehl und dem Prozess, der dadurch in Gang kommt: das Durchsäuern des als solches zunächst einmal ungenießbaren Mehls, sodass daraus schmackhaftes Brot gebacken werden kann.

Auffällig ist die ungewöhnlich große Menge: Drei Sat, ein antikes Mengenmaß, entsprechen fast 40 Litern beziehungsweise knapp einem halben Zentner Mehl. Das ist keine Haushaltsgröße, etwa 150 Personen könnten davon satt werden – ein deutlicher Hinweis darauf, dass es hier um mehr geht als das Backen eines Laibes Brot. Thema des Gleichnisses ist von Anfang an das Reich Gottes, davon handelt es. So drängt sich die Vermutung auf, dass Jesus hier das Verhältnis des Menschen zur Welt anspricht. Es verändert sich in ähnlicher Weise wie das Weizenmehl durch den Sauerteig.

Dieser steht eindeutig im Zentrum des Gleichnisses, nicht das Mehl und auch nicht das fertige Brot. Mit ihm vergleicht Jesus das Reich Gottes. Und nicht einmal mit ihm als einem Gegenstand, als einer Sache, die man sehen und beobachten kann. Dies könnte der Grund dafür sein, weshalb es hier nicht heißt, wie oft (etwa in der Lutherbibel) übersetzt wird, dass die Frau den Sauerteig in das Mehl mengte, sondern ausdrücklich, dass sie ihn in ihm verbarg. Eigentlicher Vergleichspunkt ist nicht ein Was, sondern ein Wie. Jesus verweist, was das Reich Gottes, also sein großes Thema angeht, auf den Prozess, den der Sauerteig auslöst, auf den Verwandlungsvorgang, die Transformation, die der Sauerteig bewirkt. Er verwandelt, er durchsäuert das Mehl. Wie durch den Sauerteig in Bezug auf das Mehl, so kommt durch den Reich-Gottes-Zusammenhang in Bezug auf die Welt ein Prozess in Gang, der die Voraussetzung schafft, dass, wie das zunächst ungenießbare Mehl zu Brot, zu einem Lebens-Mittel, die zuvor fremde, entfremdete Welt zum Lebenselixier schlechthin werden kann.

Diese Durchsäuerung, dieser Wandlungsvorgang beginnt in dem Moment, in dem ein Mensch in einer Weise lebt oder zu leben beginnt, in der er der Welt nicht mehr gegenübersteht, sondern mit ihr verbunden ist. Sobald er aus einer von der Weltentfremdung gekennzeichneten Existenzweise zur Weltverbundenheit, zur Ko-existenz mit der Welt zurückgefunden hat, verwandelt sich für ihn die Welt. Oder umgekehrt: Wenn sich ein derartiger Transformationsprozess anbahnt, in Gang kommt, wirksam wird, wenn ein Mensch wieder berührbar wird für die Welt um ihn her, dann ist dies ein sicheres Zeichen dafür, dass ihn das Reich Gottes erreicht hat (vgl. Kapitel 34), dass er wahrhaft zu leben beginnt. Jetzt sieht er die Welt mit neuen Augen, jetzt erscheint sie in einem anderen Licht – und er verhält sich anders in ihr als bisher.

Was dies zum Beispiel konkret bedeuten kann, geht aus den bisher besprochenen Jesusworten hervor. Man nimmt jetzt nicht mehr hin, dass religiöse Bräuche wie das Fasten oder Sabbatvorschriften das Leben einschränken. Jetzt wird gefeiert, gegessen und getrunken. Nicht das Fasten, sondern das gemeinsame Essen und Trinken hat religiöse Qualität. Der Ruhetag soll dem Menschen dienen, nicht aber der Mensch Regeln und Vorschriften, die dem ursprünglichen Sinn dieses Tages völlig inadäquat sind, ja ihn in sein glattes Gegenteil verkehren. Die Kinder stehen nicht mehr am Rand, sondern rücken ins Zentrum des gemeinsamen Lebens. Sie führen den Erwachsenen die ganz natürliche und selbstverständliche Ko-existenz mit der Welt vor Augen und bereichern damit nachhaltig deren eigenes Leben. Man bedient sich dessen und benutzt nur das, was man braucht, und bleibt so in beständigem Kontakt mit der Welt, lebt die Verbundenheit mit ihr wirklich aus. Man steht jetzt nicht mehr in Konkurrenz zueinander, will sich nicht anderen gegenüber hervortun, sie übertrumpfen, ganz oben sein, sondern füreinander und miteinander existieren. Ein anderer, ein fremder Mensch wird zum Mit-Menschen, ein Objekt zum Subjekt, Äußeres zum Bestandteil der eigenen Existenz. Reich Gottes, diese Durchsäuerung der Welt, durch die sie genießbar wird, ist ein dynamischer Prozess, keine statische Seinsweise.

„…bis es ganz durchsäuert war“. Für die Frau hat der Sauerteig bewirkt, dass das gesamte Mehl nun die Voraussetzung erfüllt, zu Brot zu werden. Insgesamt hat es eine völlig andere Konsistenz angenommen. Anders gesagt: Die Welt ist nicht mehr das, was sie vorher war, Fremdkörper, Objekt, ein Gegenstand, zu dem keine wirkliche Verbindung bestand. Jetzt aber, durch den Sauerteig, durch die Reich-Gottes-Dimension, durch die Weltverbundenheit, die sie erschlossen hat, kann sie, wie das Brot, zum Lebens-Mittel werden. Das, was Kindern noch selbstverständlich ist, kann somit auch uns Erwachsenen wieder zugänglich werden.

Thema des Gleichnisses ist eine vollständig erneuerte, ja jetzt überhaupt erst hergestellte – und zwar lebendige, lebensdienliche – Beziehung zur Welt, keinesfalls eine Optimierung beziehungsweise einen schlussendlich hergestellten perfekten Zustand der Welt. In diesem Fall könnte jene Frau die vollständige Durchsäuerung des Mehls ja niemals erleben, worauf das Gleichnis aber eindeutig hinausläuft. Jesus steht hier gerade nicht ein objektiver, beobachtbarer, vorzeigbarer Vorgang vor Augen. Vielmehr bewirkt der im Weizen verborgene Sauerteig den Zugang zur Welt, macht wahrnehmbar, dass die Verbundenheit mit ihr die Quelle unseres Lebens ist. Mit dem Reich Gottes meint Jesus weder eine heile Welt, noch geht es ihm um ihre immer weiter voranschreitende Optimierung, in welchem Sinn diese Geschichte bislang immer gedeutet worden ist: „Die Gottesherrschaft wird (…) mit dem Schlußstadium verglichen: (…) mit dem durchsäuerten Teig“ (Joachim Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 1970, 8. Auflage, S. 146); „Mit Jesus ist der Anfang gemacht, nun kann man sich auf die Durchsetzungskraft der Gottesherrschaft verlassen. (…) Die Gottesherrschaft kann und wird sich total und umfassend ausdehnen.“ (Jürgen Becker, Jesus von Nazaret, Berlin/New York 1996, S 152f.) Wenn Jesus vom Reich Gottes spricht, meint er nie ein Anfangsstadium, einen Teilbereich oder dergleichen. Reich Gottes wird entweder ganz und gar erfahren, ist entweder ganz und gar wirksam (wovon das Gleichnis vom Sauerteig handelt) oder gar nicht. Es ist kein Phänomen, das man beschreiben, kein Objekt, dem gegenüber man sich verhalten kann. Erfahrbar wird es, zur Geltung kommt es, wirksam wie Sauerteig es ist immer nur im Zuge einer Existenzweise, die sich nicht mehr isoliert von der Welt und selbstbezogen vollzieht, sondern – vollkommen anders – zu einer „Ko-existenz“ geworden ist.

Claus Petersen

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