Kapitel 4
RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT
DIE WELT-RELIGION JESU
BASISKURS BASILEIOLOGIE
Das nachjesuanische Evangelium von Kreuz und Auferstehung
Im ersten Kapitel war eher allgemein von der Zeitenwende die Rede, die die „Welt-Religion“ Jesu auslösen könnte, im zweiten von dem Kontext, dem man sie vermutlich zuordnen kann, während im dritten einige Leitgedanken formuliert wurden, die ihr erste Konturen geben. Das ist alles andere als ein einfaches Unterfangen. Lässt sich heute, nach 2000 Jahren, überhaupt noch einigermaßen Sicheres darüber aussagen? Schriftliche Zeugnisse dieses Jesus von Nazaret sind nicht überliefert. Im Grunde steht uns nur eine einzige brauchbare Quelle zur Verfügung: die Bibel, genauer: das Neue Testament. Außerbiblische Quellen können außer Betracht bleiben. Sie würden das Bild, das sich aus den neutestamentlichen Überlieferungen ergeben wird, weder verändern noch seine Farben deutlicher zu Tage treten lassen. Dieses Neue Testament besteht aus einer Sammlung von Schriften, die allesamt in den ersten Jahrzehnten nach Jesu Tod niedergeschrieben worden sind. (Nähere Informationen zur Entstehung des Neuen Testaments finden sich in Exkurs 1: Der Kanon der Bibel.) Wenn wir es zur Hand nehmen, wird allerdings sehr schnell deutlich, dass sich diese Schriften unserem Thema, nämlich der Religion beziehungsweise der Existenzweise, die Jesus selbst vertreten und gelebt hat, weitestgehend überhaupt nicht widmen und dort, wo es tatsächlich der Fall zu sein scheint, äußerste Vorsicht geboten ist. Grundthema des Neuen Testaments ist nicht die Botschaft Jesu selbst, also seine Worte und seine Existenzweise, sondern seine übermenschlich-gottähnliche Person als Gegenstand des Glaubens beziehungsweise die Heilstat, als die man seine Kreuzigung interpretiert hat.
Doch überprüfen wir diese Aussage noch einmal. Lässt sich – und zwar im Neuen Testament selbst – erkennen, weshalb es zusammengestellt worden ist, weshalb seine Schriften entstanden sind, was ihr inneres – und vielleicht sogar gemeinsames? – Thema ist? Sehr hilfreich bei diesem Unternehmen ist die Tatsache, dass sich offensichtlich schon sehr bald ein Begriff herauskristallisiert hat, mit dem genau dieses Thema benannt wird. Es ist eine Art Terminus technicus, nämlich das Wort „Evangelium“.
Mit diesem Wort haben diejenigen, die, wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise, an Jesus anknüpfen wollten, einen Begriff, ja einen Inbegriff gewählt, der genau das zum Ausdruck bringt, was „Jesus“, seine Person oder seine Botschaft, für sie bedeutet: etwas in jeder Beziehung Wohltuendes, Wunderbares, Großartiges. Sie nannten es – auf Griechisch, der Sprache, in der die Schriften des Neuen Testaments abgefasst worden sind – εὐαγγέλιον, euangélion (eu-angélion = frohe Botschaft, gute Nachricht). Später ist das Wort zum Fachbegriff einer literarischen Gattung geworden, nämlich einer Biografie-ähnlichen Darstellung des Lebens und der Bedeutung Jesu (im Neuen Testament sind es die später Matthäus, Markus, Lukas und Johannes zugeschriebenen Bücher), deren (angebliche) Verfasser „Evangelisten“ genannt wurden. Manche Kirchenväter bezeichneten auch das ganze Neue Testament als Evangelium.
Im Neuen Testament findet sich über 70-mal dieses Wort euangélion, Evangelium, und genau drei Texte enthalten nicht nur den Begriff, sondern geben auch Auskunft, was darunter jeweils zu verstehen ist. Ihnen werden wir uns jetzt zuwenden.
Der wahrscheinlich als erster von diesen dreien, nämlich etwa im Jahr 55 nach der Zeitenwende schriftlich fixierte Text steht im ersten Brief des Paulus an die christliche Gemeinde ein Korinth. In den Versen 3b–5a des 15. Kapitel (sie sind hier im Kontext der Verse 1–8 weiter eingerückt) zitiert er offensichtlich eine ihm selbst bereits vorgegebene Zusammenfassung dieser christlichen Lehre, auf die er sich beruft und die er „das Evangelium“ nennt:
Ich erinnere euch aber, liebe Brüder, an das Evangelium, das ich euch verkündigt habe…
Denn als erstes habe ich euch weitergegeben, was ich auch empfangen habe:
Dass Christus gestorben ist für unsere Sünden nach der Schrift;
und dass er begraben worden ist.
Und dass er auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift;
und dass er von Kephas gesehen worden ist,
danach von den Zwölfen. Danach ist er gesehen worden von mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal, von denen die meisten noch heute leben, einige aber sind entschlafen. Danach ist er gesehen worden von Jakobus, danach von allen Aposteln. Zuletzt von allen ist er auch von mir als einer unzeitigen Geburt gesehen worden…
Darauf, dass es sich bei den eingerückten Sätzen um einen schon längere Zeit feststehenden Text handelt, weist der wohlüberlegte, kunstvolle Aufbau dieser Verse hin. Sie bestehen aus zwei Teilen: Die ersten beiden Zeilen sind dem Tod, das zweite Zeilenpaar ist der Auferstehung Christi gewidmet. Jeder Teil beginnt mit einer dreigliedrigen Aussage, deren dritter Teil wiederum identisch ist: „gestorben“ – „für unsere Sünden“ – „nach der Schrift“ bzw. „auferstanden“ – „am dritten Tage“ – „nach der Schrift“. Mit der „Schrift“ ist das heutige Alte Testament gemeint, das heißt, beides, der Tod Christi zur Sühne unserer Sünden und seine Auferstehung, hat sich nach Auffassung dieser Menschen genau so ereignet, wie es dort schon vorhergesagt worden ist. Beiden Grundaussagen ist dann jeweils ein kürzerer Satz zugeordnet, der das Gesagte bestätigt: Das Begräbnis bestätigt den Tod, die Tatsache, dass er von Kephas (die aramäische Namensform des Jesusjüngers Petrus) „gesehen“ worden ist, bestätigt die Auferstehung des Gestorbenen. Bei diesem „Sehen“ handelt es sich wohl um das Phänomen, dass Hinterbliebene einen verstorbenen Menschen manchmal nach dessen Tod gleichsam noch einmal wie lebendig vor sich sehen (man bezeichnet dies als „visuelle Halluzination“). Die Personen, die danach noch aufgeführt werden, dürften erst nachträglich an diese Basissätze angefügt worden sein, und Paulus hat sich dann selbst noch „angehängt“ und schließt damit gewissermaßen eigenhändig die Reihe der „Auferstehungszeugen“ ab. Da er Jesus persönlich nicht gekannt hat, kann er ihn, wenn überhaupt, allerdings nur in anderer Weise „gesehen“ haben (auch wenn er denselben griechischen Begriff verwendet) als die vorher Genannten. Da er sich aber ebenso wie etwa Petrus zum Apostel berufen fühlt und die Legitimation dafür offensichtlich eben die Teilhabe an jenen „Erscheinungen“ darstellt, muss er sich hier auch selbst einreihen. (Der Frage, wie sich Paulus selbst verstanden hat, sowie problematischen Aspekten seines Selbstverständnisses und seiner Lehre widmet sich Exkurs 2: Die Grundkonstante der Gewalt in der paulinischen Theologie und der Versuch einer Erklärung.)
Speziell aber die Worte, die Paulus zitiert, also der – oben eingerückte – zweiteilige Absatz, können durchaus als ein erstes christliches Bekenntnis bezeichnet werden. Es bezieht sich ausdrücklich auf Christus, also nicht einfach auf den Menschen Jesus von Nazaret, sondern auf ihn als den, so im Griechischen wörtlich, Gesalbten, den – das griechische christós ins Hebräische übersetzt – Messias, mit anderen Worten: auf Jesus als eine von allen übrigen Menschen zu unterscheidende, von Gott in besonderer Weise herausgehobene Person. Dieses Bekenntnis führt dann aus, was es ist, das diese Person so „besonders“ macht, und eben darin besteht hier offensichtlich das „Evangelium“, also die gute Nachricht, an die Paulus die christliche Gemeinde in Korinth erinnert. Es ist das Evangelium von Kreuz und Auferstehung: dass Jesus gestorben ist, um unsere Schuld zu sühnen, um unsere Sündenschuld durch seinen Tod am Kreuz zu bezahlen und uns auf diese Weise mit Gott zu versöhnen, und dass er ist auferstanden beziehungsweise auferweckt, also eben dieses Erlösungswerk von Gott bestätigt und besiegelt worden ist. Der Sühnetod Jesu am Kreuz hat danach ein für alle Mal das Heil, die Erlösung, die Rettung der Menschen bewirkt – sofern sie an dieses „Evangelium“ glauben. Rettung, Erhaltung, Heil heißt auf Griechisch sōtäría, sodass man das Evangelium, das dem Paulus selbst schon in dieser Form überliefert worden ist und die Grundlage auch seiner eigenen Botschaft war, das „soteriologische Evangelium“ nennen könnte (der theologische Fachbegriff „Soteriologie“ bezeichnet die Lehre vom Heil, von der Erlösung, die Jesus durch seinen Tod am Kreuz bewirkt habe).
Das Evangelium von Kreuz und Auferstehung hat sich erst in der Zeit nach Jesu Tod herausgebildet. Es geht keineswegs auf Jesus von Nazaret selbst zurück.
Sämtliche Worte, die dieser Aussage zu widersprechen scheinen, sind Jesus erst nachträglich in den Mund gelegt worden. Dabei handelt es sich zum einen um das sogenannte Lösegeldwort in Markus 10,45 (= Matthäus 20,28): „Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele“, zum anderen um die drei sogenannten Leidens- und Auferstehungsweissagungen in Markus 8,31; 9,31; 10,33f. (und den jeweiligen Parallelen im Matthäus- und Lukasevangelium), wonach Jesus seinen Jüngern sein bevorstehendes Leiden, seinen Tod und seine Auferstehung ankündigt, und zum dritten um die sogenannten Einsetzungsworte beim letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern, mit denen Jesus angeblich Brot und Wein auf seinen für die Menschen gebrochenen Leib und sein für sie vergossenes Blut bezieht (Markus 14,22–24; Matthäus 26,26–28; Lukas 22,16f. sowie 1. Korinther 11,24f., wo Paulus behauptet, die Einsetzungsworte unmittelbar „vom Herrn empfangen“ zu haben), seinen Tod somit als ein Sühnopfer deutet. Stellvertretend für die neutestamentliche Bibelwissenschaft sei an dieser Stelle der Kieler Neutestamentler Jürgen Becker zitiert: „Alle Texte zu diesem letzten Mahl Jesu verdanken sich liturgischer Gestaltung, die die Mahlfeiern der einzelnen Gemeinden widerspiegeln. Kein Text will berichten, was einst war, sondern begründen, warum die Gemeinde das Herrenmahl gerade so feiert, wie sie es tut.“ (Jürgen Becker, Jesus von Nazaret, Berlin/New York 1996, S. 418). Paulus, von dem die älteste dieser vier Überlieferungen stammt, bezieht sich nicht etwa auf Worte Jesu, die ihm von anderen mitgeteilt worden seien, oder auf eine bereits in allen Gemeinden verbreitete Praxis. Vieles spricht im Gegenteil dafür, dass er selbst es gewesen ist, der jene sogenannten Einsetzungsworte erstmals formuliert hat. Wenn er sich dabei auf eine übernatürliche Offenbarung beruft, durch die ihm der himmlische Christus mitgeteilt habe, wie sich jenes letzte Mahl seinerzeit zugetragen habe – „Denn ich habe es vom Herrn empfangen, was ich euch weitergegeben habe“ (1. Korinther 11,23a) –, spricht er jenen Worten zugleich die höchstmögliche Autorität zu. Er erklärt sie damit für absolut sakrosankt. Und dabei ist es in den Kirchen bis heute geblieben.
Nicht nur, aber vor allem durch die Feier des Abendmahls beziehungsweise der Eucharistie oder der Kommunion bekennen sich die Kirchen ausdrücklich zu dem nichtjesuanischen „soteriologischen Evangelium“.
Nach der der biblischen Darstellung folgenden Rezitation der Einsetzungsworte wendet sich der Liturg mit den Worten an die Gemeinde, die im 1. Korintherbrief auf die „Einsetzungsworte“ folgen (1. Korinther 11,26): „Sooft ihr von diesem Brot esst und von diesem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt“, worauf die Gemeinde antwortet: „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“ Mit diesem Bekenntnis macht sie sich ausdrücklich die Deutung der Hinrichtung Jesu als das alles entscheidende Heilsereignis zu eigen. Durch die Feier des Abendmahls empfängt sie das durch Jesu Tod am Kreuz erwirkte göttliche Heil gleichsam aufs Neue und proklamiert damit die Heilsbedeutung des Todes Jesu. Ausgeteilt werden Brot und Wein mit den entsprechenden Spendeformeln „Christi Leib, für dich gegeben“ beziehungsweise „Christi Blut, für dich vergossen“.
Auch in den altkirchlichen Bekenntnissen, die die Gemeinde in ihren Gottesdiensten rezitiert, spielt das (sühnende) Leiden und Sterben Jesu eine zentrale Rolle. „Er wurde für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus“, heißt es im Nicänisch-Konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis, ein Glaubensbekenntnis, das erstmals auf dem Konzil von Chalcedon im Jahr 451 öffentlich verlesen wurde und seitdem als maßgeblich gilt. Auch wenn in dem sogenannten Apostolischen Glaubensbekenntnis („sogenannt“, weil es keinesfalls auf die Apostel, also auf die Jünger Jesu zurückgeht, sondern erst viele Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte später Gestalt angenommen hat) die Worte „für uns“ nicht vorkommen, geht doch auch aus ihm hervor, dass die zentrale Bedeutung des Lebens Jesu in dem ihm zugefügten und von ihm erduldeten Leid besteht. Die Aussagen über die irdische Existenz Jesu beschränken sich nämlich nicht, wie oft angenommen wird, auf seine wunderbare Geburt einerseits und seinen Tod am Kreuz andererseits. Die Worte sind hier anders aufzuteilen, als sie gewöhnlich gesprochen werden, und in folgender Weise zu lesen und zu verstehen: „Geboren von der Jungfrau Maria.│Gelitten.│Unter Pontius Pilatus gekreuzigt, gestorben und begraben.“ Das Wort „Gelitten“ ist also nicht mit dem folgenden „unter Pontius Pilatus“ zu verbinden, sondern steht für sich allein. Es ist von ganz besonderem Gewicht, kennzeichnet es hier doch die Bedeutung Jesu für den christlichen Glauben: Einzig relevant an seinem Leben zwischen Geburt und Tod ist die Tatsache, dass er „gelitten“ hat, also seine Passion. Im Heidelberger Katechismus, der zentralen Bekenntnisschrift der evangelisch-reformierten Kirche aus dem Jahr 1563, lautet denn auch die Antwort auf Frage 37 („Was verstehst du unter dem Wörtchen ‚gelitten‘?“): „Dass er an Leib und Seele die ganze Zeit seines Lebens auf Erden, sonderlich aber am Ende desselben, den Zorn Gottes wider die Sünde des ganzen menschlichen Geschlechts getragen hat, auf dass er mit seinem Leiden, als mit dem einigen Sühnopfer, unsern Leib und unsere Seele von der ewigen Verdammnis erlöste und uns Gottes Gnade, Gerechtigkeit und ewiges Leben erwürbe.“
Gegenstand dieses soteriologischen Verständnisses des Begriffs „Evangelium“ ist Jesus als Christus und Erlöser, nicht seine Botschaft.
Heilstiftend ist nicht sein Leben, sondern sein Sterben, allerdings nicht einfach als ein Mensch wie andere, sondern als der Christus. Nur wegen dieses besonderen Status ist er jener Interpretation zufolge in der Lage gewesen, eine solche Heilstat zu vollbringen. Dieser einzigartige göttliche Rang, den es zu erkennen und an den es zu glauben gelte, steht im Zentrum eines ähnlichen, aber doch etwas anders gelagerten Verständnisses des Begriffs „Evangelium“, dem wir uns im nächsten Kapitel zuwenden werden.
Claus Petersen
Eine PDF-Datei dieses Kapitels finden Sie hier.