Kapitel 38

 

RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT

DIE WELT-RELIGION JESU

BASISKURS BASILEIOLOGIE

 

 

 

„Kommt, denn es ist schon bereit!“

Das Gleichnis von der Einladung zum großen Festmahl ([Matthäus 22,1–10] / Lukas 14,16–21)

Das sechzehnte der 21 Jesusworte

 

Auch dieses Gleichnis dürften „Matthäus“ und „Lukas“ wieder der Logienquelle entnommen haben. „Matthäus“ hat es allerdings grundlegend verändert und zu einer allegorischen Erzählung von einem von einem König für seinen Sohn veranstalteten Hochzeitsmahl umgeformt, die auf die Geschichte der frühen Kirche anspielt (Kapitel 22,2–10), diese durch die Episode vom vergessenen Hochzeitskleid (Vers 11–13) ergänzt und mit einer Ermahnung (Vers 14) abgeschlossen. Im Lukasevangelium, das die ursprüngliche Version weitgehend bewahrt hat, lautet das Gleichnis:

 

Ein Mensch veranstaltete ein großes Festmahl, lud viele dazu ein und schickte, als das Fest beginnen sollte, seinen Diener aus, um den Eingeladenen zu sagen:
„Kommt, denn es ist schon bereit!“
Da fingen alle ohne Ausnahme an sich zu entschuldigen.
Der erste sagte zu ihm:
„Ich habe einen Acker gekauft
und muss ihn unbedingt besichtigen gehen;
ich bitte dich: Betrachte mich als entschuldigt.“
Ein anderer sagte:
„Ich habe fünf Ochsengespanne gekauft
und bin gerade auf dem Weg, um sie mir genauer anzusehen;
ich bitte dich: Betrachte mich als entschuldigt.“
Wieder ein anderer sagte:
„Ich habe geheiratet
und kann deshalb nicht kommen.“
Der Diener kehrte zurück und berichtete seinem Herrn davon.
Da wurde der Hausherr zornig und sagte zu seinem Diener:
„Geh schnell hinaus auf die Plätze und Straßen der Stadt und führ die Armen herein!“

 

Nicht ausdrücklich – den Begriff selbst verwendet Jesus hier nicht –, aber dem Inhalt nach handelt auch dieses Gleichnis mit Sicherheit vom Reich Gottes. Nichts anderes ist mit dem „großen Festmahl“, wie es ausdrücklich heißt, gemeint. Der Tisch ist gedeckt, es gilt Platz zu nehmen, teilzuhaben. Das große Festmahl steht nicht mehr aus, ist keine unbestimmte Hoffnung mehr, sondern es steht „schon“ bereit, hier und jetzt.

Damit aber haben die zuerst Eingeladenen überhaupt nicht gerechnet. Obwohl die Einladung grundsätzlich längst ausgesprochen war, trifft sie sie jetzt ganz unerwartet. Schlimmer noch: In ihrer augenblicklichen Lebenssituation ist es ihnen schlichtweg nicht möglich, sie anzunehmen. Sie haben keine Wahl. Sie sehen sich gezwungen abzusagen. „Alle ohne Ausnahme“, wie es ausdrücklich heißt, lassen sich entschuldigen. Sie bringen drei Gründe vor, die stellvertretend auch für die Gründe aller sonst noch Eingeladenen stehen. Die beiden ersten ähneln sich: Jeweils ist es der Erwerb von Eigentum (Ackerland/Grundbesitz, Vieh/Produktionsmittel), der sie daran hindert, der Einladung zu folgen. Einen ganz anderen Grund nennt der Dritte: Er kann nicht kommen, weil er geheiratet hat. Benannt, ja geradezu auf den Punkt gebracht werden somit bestimmte Lebenszusammenhänge, die eben als solche der Teilnahme am Festmahl wie eine unüberbrückbare Barriere im Wege stehen: Besitzerwerb, worauf das Schwergewicht liegt – dafür sprechen sowohl der Umfang als auch die Doppelung –, und Eheschließung. Sie halten die zum Festmahl eingeladenen Menschen derart fest und gefangen, dass sie sich nicht überwinden, daran teilzunehmen. Es bleibt ihnen verschlossen, obwohl der Tisch für sie gedeckt ist.

Es klingt wie ein tragisches Verhängnis, als ob Menschen geradezu die Bestimmung ihres Lebens verfehlen. Durch ihren Besitz, durch die Macht ihres Privatlebens haben sie sich von der Welt separiert. Die Offenheit ihr gegenüber ist ihnen verlorengegangen ist. Sie sind aus dem „Reich-Gottes“-Zusammenhang herausgefallen und finden nicht wieder in ihn hinein. Obwohl ein großes Festmahl für sie bereitsteht – und zwar, unerwarteterweise, jetzt schon! –, obwohl das Leben selbst, das Leben im großen Zusammenhang, wofür das große Festmahl steht, sie erwartet, bleiben sie ihm fern. Das muss die tagtägliche Erfahrung Jesu gewesen sein. Viele, allerdings meist ganz bestimmte Menschen sehen sich außer Stande, das richtige, gute Leben zu ergreifen und es zu leben. Die Wohlhabenden und die, die nur noch um ihr privates Glück kreisen, bleiben in „ihrer Welt“ gefangen, können die Mauern ihres Mikrokosmos, die sie von allem anderen, ja vom Leben und von der Welt selbst abschotten, nicht durchbrechen, finden aus ihrer Entfremdung nicht heraus.

Aber das große Festmahl findet trotzdem statt, allerdings mit einem ganz anderen Publikum als ursprünglich vorgesehen. Dem Hausherrn wird sofort klar, welche Menschen sich bestimmt nicht entschuldigen lassen werden, sondern die Einladung ohne jedes Zögen sofort annehmen werden: die Armen, also diejenigen, die sich nicht absichern, die jeden Tag aufeinander und auf die Menschen um sie her, auf die Welt, die sie umgibt, angewiesen sind. Der Grund dafür, dass sie die Einladung mit Sicherheit nicht zurückweisen werden, liegt offensichtlich in der Affinität ihrer Lebensweise mit dem, wofür das große Festmahl steht: für die Feier der Verbundenheit mit der Welt. Jederzeit vollzieht sich ihre Existenz im „Reich Gottes“, die der Reichen nie. So ist das Gleichnis von der Einladung zum großen Festmahl gleichzeitig auch ein Kommentar zur Seligpreisung der Armen (Kapitel 26) und dem Wort vom Kamel und Nadelöhr, in dem Jesus den Reichen den Zugang zum Reich Gottes kategorisch abspricht (Kapitel 22).

„Lukas“ führt nach den Armen noch die „Verkrüppelten, Blinden und Gelähmten“ auf und greift damit auf den 13. Vers desselben Kapitels zurück, in dem genau diese Menschengruppe ebenfalls zusammen mit den Armen genannt wurde. Es dürfte sich dabei um eine nachträgliche Ergänzung handeln, denn zum einen war es nicht ihre Gesundheit, die die zuerst Eingeladen veranlasst hat, die Einladung abzulehnen, sondern in erster Linie ihr Reichtum, und zum anderen ist die Armut, wie wir gesehen haben, aus jesuanischer Sicht in keiner Weise wie jene körperlichen Gebrechen eine Einschränkung des Lebens, sondern ganz im Gegenteil das entscheidende Merkmal einer guten, richtigen und beglückenden Existenzweise.

„Kommt, denn es ist schon bereit!“ Jetzt ist die Zeit. Jesus vertröstet die Menschen nicht, er macht ihnen keine Hoffnung auf irgendwann, sondern lädt sie jetzt ein, das Fest des Lebens mitzufeiern. Eine Utopie, eine Eschatologie, eine „Lehre von den letzten Dingen“, sucht man bei ihm vergebens. Im Gleichnis von der Einladung zum großen Festmahl findet man allenfalls eine „Nynologie“, eine Lehre vom „Jetzt“ (nyn ist das griechische Wort für „jetzt“). Das große Festmahl steht bereit, jetzt! Versäumt es nicht!

 

Zum Wortlaut der Einladung zum großen Festmahl

 

Vielen Menschen ist ein etwas anderer Wortlaut der Einladung zum großen Festmahl geläufig. Bis zur Revision der Lutherbibel anlässlich des Reformationsjubiläums im Jahr 2017 lautete sie: „Kommt, denn es ist alles bereit!“ Kurz gesagt (ausführliche Informationen zur Textüberlieferung finden sich in Exkurs 7): In den beiden griechischen Bibelhandschriften, die dem erstmals von Erasmus von Rotterdam herausgegebenen griechischen Text des Neuen Testaments zugrunde lagen, die Martin Luther für seine Übersetzung zur Verfügung standen, lautete die Einladung, wortwörtlich ins Deutsche übersetzt: „Kommt, denn es ist schon bereit alles!“ Luther erkannte wahrscheinlich, dass dieser Text überladen war, und ersetzte das Wörtchen „schon“ durch das am Schluss stehende, nämlich im Laufe der Textüberlieferung hinzugefügte „alles“. In später entdeckten, sehr viel älteren Handschriften lautet die Einladung: „Kommt, denn es ist schon bereit!“ Wahrscheinlich erkannte man die entscheidende Bedeutung gerade des „schon“ nicht mehr, beließ es aber zumindest noch im Text. Erst in der jüngsten revidierten Ausgabe der Lutherbibel (leider bislang in keiner anderen mir bekannten deutschen Bibelübersetzung) ist die Einladung zum großen Festmahl wieder in ihrer vermutlich ursprünglichen Form zu lesen: „Kommt, denn es ist schon bereit!“

 

Redaktionelle Erweiterungen im Lukasevangelium

 

Abgesehen von den vermutlich erst von „Lukas“ im letzten Satz des Jesusgleichnisses noch ergänzten „Verkrüppelten, Blinden und Gelähmten“ ist die Erzählung später noch mehrfach erweitert, damit aber auch verfremdet worden. Jesus hatte das Gleichnis mit der Einladung der Armen abgeschlossen. Nun legte man ihm noch eine zweite Einladung in den Mund, die sich an weiter entfernt lebende Menschen richtet: „Da sagte der Diener: ‚Herr, es ist geschehen, was du befohlen hast, aber es ist noch Platz vorhanden.‘ Da sagte der Herr zu seinem Diener: ‚Geh auf die Landstraßen und an die Zäune und fordere sie nachdrücklich auf hereinzukommen, damit mein Haus voll wird!‘“ Man bezog das Gleichnis jetzt auf zwei Phasen der frühchristlichen Missionsgeschichte. Die ursprüngliche Einladung der „Armen“ brachte man jetzt mit der „Judenmission“ in Verbindung und ergänzte sie durch eine zweite, die die Nichtjuden, also die sogenannte „Heidenmission“ betrifft. Jetzt wird nicht mehr in das „Reich Gottes“, also zum richtigen, guten Leben, sondern in die christliche Gemeinde eingeladen.

Später wurde Jesus dann noch ein weiterer Satz untergeschoben, der aus dem Gleichnis eine Gerichtsansage macht. Danach schloss er es mit den Worten ab: „Ich sage euch: Niemand von jenen Männern, die eingeladen waren, werden mein Festmahl genießen.“ Das große Festmahl findet jetzt im Himmel statt. Die, die die Einladung abgelehnt haben, sind davon ausgeschlossen. Man kann sich nur verwundert die Augen reiben, mit welcher Unverfrorenheit Jesus höchstpersönlich, angeblich durch seine eigenen Worte, für religiöse Vorstellungen instrumentalisiert wird, die mit seiner eigenen Auffassung vollkommen unvereinbar sind. „Matthäus“ schließlich geht noch weiter, indem er die gesamte Geschichte in ein ziemlich brutales Gerichtsgleichnis umwandelt und ebenfalls bedenkenlos Jesus zuschreibt.

Claus Petersen

Eine PDF-Datei dieses Kapitels finden Sie hier.


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