Hunger und Mangelernährung: Information

 

INFORMATION

 

Dem am 12. Juli 2023 in Genf veröffentlichten UN-Ernährungsbericht zufolge waren im Jahr 2022 735 Millionen Menschen von Hunger betroffen. In Afrika hungerte jeder fünfte Mensch, mehr als doppelt so viele wie im weltweiten Durchschnitt. Knapp 30 Prozent der Weltbevölkerung, 2,4 Milliarden Menschen, hatten keinen steten Zugang zu Nahrungsmitteln.

Laut dem am 12. Oktober 2023 in Berlin vorgestellten Welthunger-Index 2023 ist die Zahl der unterernährten Menschen von 2017 bis 2022 von 572 Millionen auf etwa 735 Millionen gestiegen. Von den untersuchten 136 Ländern verzeichnen 43 weiterhin ein sehr ernstes und ernstes Hungerniveau und in 18 Ländern hat der Hunger seit 2015 noch einmal zugenommen. 58 Länder werden es nicht schaffen, bis 2030 ein niedriges Hungerniveau zu erreichen. Afrika südlich der Sahara sowie Südasien sind erneut die Regionen mit den höchsten Hungerraten.
Seit 2006 wird der Index jährlich von der Welthungerhilfe mit Sitz in Bonn sowie der irischen Organisation Concern Worldwide veröffentlicht. Der Welthungerindex (WHI) ist umfassender angelegt ist als beispielsweise die Hunger-Definition der FAO; während diese den Hunger lediglich an der Kalorienaufnahme festmacht, setzt sich der WHI aus vier gleichwertigen Indikationen zusammen: Betrachtet wird der Anteil der unterernährten Menschen an der Bevölkerung, die Auszehrung bie Kindern unter fünf Jahren (zu niedriges Gewicht im Verhältnis zur Körpergröße als Hinweis auf akute Unterernährung), Wachstumsverzögerung bei Mädchen und Jungen unter fünf Jahren (zu geringe Körpergröße im Verhältnis zum Alter als Hinweis auf chronische Unterernährung) und die Sterblichkeitsrate von unter Fünfjährigen.

„Mangelernährung ist die weltweit größte Bedrohung für das Überleben von Kindern. Mehr als 45 Millionen Kinder unter fünf Jahren leiden unter akuter Mangelernährung. Diese tritt ein, wenn dem Körper nicht genug Nahrung zugeführt wird und er seine Energiereserven verbraucht. Der Körper beginnt, auf der Suche nach Nährstoffen und nach überlebenswichtiger Energie, sein eigenes Gewebe zu verbrauchen, beginnend mit Muskeln und Fett. Dadurch verlangsamt sich der Stoffwechsel des Körpers, die Temperaturregulierung wird gestört, die Nierenfunktion beeinträchtigt und das Immunsystem funktioniert nur noch eingeschränkt. Je größer der Verlust an Muskelmasse und anderem Gewebe, desto größer die Gefahr, ein weiteres Kind zu verlieren.“ (Aus: Jan Sebastian Friedrich-Rust, Hunger darf keine Kriegswaffe sein, in: Frankfurter Rundschau vom 25. Mai 2023)

Laut der Welthungerhilfe stirbt weltweit alle dreizehn Sekunden ein Kind unter fünf Jahren an den Folgen von Hunger, in einem Jahr also fast 2,5 Millionen Kinder. 149 Millionen Kinder unter fünf Jahren zeigen Wachstumsverzögerungen (stunting) auf, ein Indikator für chronische Unterernährung.

Wie aus dem am 5. Mai 2023 von dem von den Vereinten Nationen und der Europäischen Kommission gegründeten Global Network Against Food Crises (GNAFC, globales Netzwerk gegen Nahrungsmittelkrisen) herausgegebenen „Global Report on Food Crises hervorgeht, waren im Jahr 2022 258 Millionen Erwachsene und Kinder in 58 Ländern akut von Ernährungsunsicherheit betroffen. Das waren 65 Millionen Menschen mehr als im Vorjahr, womit die Zahl der Hungernden zum vierten Mal in Folge gestiegen ist. Über 40 Prozent der Hungernden leben in Afghanistan, Äthiopien, der Demokratischen Republik Kongo, Nigeria und dem Jemen.

Die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO, die Kommission der Afrikanischen Union, die UN-Wirtschaftskommission für Afrika und das Welternährungsprogramm WFP teilten am 7. Dezember 2023 in einem gemeinsamen Bericht mit, dass in Afrika aufgrund einer sich stetig verschärfenden Nahrungsmittelkrise etwa 282 Millionen Menschen unterernährt sind, knapp 20 Prozent der Bevölkerung. Etwa 78 Prozent der Bevölkerung – mehr als eine Milliarde Menschen – könnten sich keine gesunde Ernährung leisten, verglichen mit 42 Prozent weltweit. Grund dafür sei ein stetiger Anstieg der Preise von Grundnahrungsmitteln, vor allem in West- und Ostafrika.

Laut einer am 23. Juni 2021 veröffentlichten Untersuchung der britischen Organisation „Save the Children“ steigt erstmals seit Jahrzehnten die Zahl der hungernden und mangelernährten Kindern wieder weltweit. Derzeit drohten mehr als 5,7 Millionen Kinder unter fünf Jahren zu verhungern. Weitere 13 Millionen Mädchen und Jungen unter 18 Jahren hätten deutlich zu wenig zu essen.

Gleichwohl ist Hunger keine Folge des Mangels an Nahrungsmitteln, sondern eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte stellt 1999 zum Menschenrecht auf Nahrung klar: „Im Grunde liegt die Wurzel des Problems von Hunger und Mangelernährung nicht in einem Mangel an Nahrungsmitteln, sondern im mangelnden Zugang großer Teile der Weltbevölkerung zu den verfügbaren Nahrungsmitteln, der unter anderem auf Armut zurückzuführen ist.“
„Unabhängige, meist kleinbäuerliche Produzentinnen und Produzenten sowie in der Landwirtschaft abhängig Beschäftigte machen heute mehr als die Hälfte aller Hungernden aus. Eine Schlüsselfrage ist deshalb nicht, wie die Produktion zu steigern ist, sondern wie die Lebensverhältnisse der Ärmsten, auch durch die Landwirtschaft, verbessert werden können, sodass sie Zugang zu Einkommen und angemessener Ernährung haben.“ (Konzernatlas. Daten und Fakten über die Agrar- und Lebensmittelindustrie, 2017, S. 32)

Das evangelische Hilfswerk Brot für die Welt und die Menschenrechtsorganisation FIAN legen zum Welternährungstag das „Jahrbuch zum Recht auf Nahrung“ vor. Darin beleuchten sie die Ursachen von Umweltzerstörung, Hunger und Ausbeutung und stellen Handlungsalternativen vor. Das Jahrbuch 2020 ist am 15. Oktober 2020 erschienen. Es fordert eine grundsätzliche Umgestaltung der Art und Weise, wie Lebensmittel produziert, verteilt und konsumiert werden, aber auch, wie wir uns kollektiv gegen die Ausbeutung der Natur wehren. Notwendig sei eine viel engere Zusammenarbeit der Bewegungen für Klimagerechtigkeit, Ernährungssouveränität und Menschenrechte. Konkrete Forderungen, wie diese Umgestaltung aussehen kann, haben beide Organisation mit dem Papier „Welternährung 2030. 11 Schritte für eine Zukunft ohne Hunger“ vorgelegt.

Weltweit gehen nach einem im Oktober 2019 veröffentlichten Bericht der Vereinten Nationen (UN) 14 Prozent der Lebensmittel verloren, bevor sie überhaupt im Handel landen. Gründe für die Verluste seien falsche Erntezeit, klimatische Bedingungen, falsche Erntetechniken, schlechte Lagerung und schlechter Transport.

Eine Milliarde Menschen leiden unter sogenanntem verborgenem Hunger (hidden hunger). Sie wird zwar satt, nimmt aber mit dem Essen zu wenig Nährstoffe auf und ist daher wenig leistungsfähig und anfällig für Krankheiten. Diesen Menschen fehlen wichtige Nährstoffe wie Vitamin A, Jod und Eisen. Der Mangel an Vitaminen und Spurenelementen beeinträchtigt die geistige und körperliche Entwicklung vor allem bei Kindern.

Nach einer globalen Studie, an der 53 Forscher aus 15 Ländern mitgewirkt haben, könnte die Erwärmung des Klimas dazu führen, dass es künftig noch mehr Hunger in der Welt gibt: Denn jedes zusätzliche Grad Celsius verringert die Produktion von Weizen im Schnitt um sechs Prozent – weltweit wären das Ertragseinbußen in Höhe von jährlich 42 Millionen Tonnen Getreide. (Frankfurter Rundschau vom 14. Januar 2015) „Ein US-Forschungsteam der Universität von Seattle hat kalkuliert, dass pro Grad Erderwärmung die Ernteerträge von Reis, Mais und Weizen um 10 bis 25 Prozent sinken könnten.“ (Pestizidatlas 2022, S. 10)

Laut einer im Jahr 2017 in der Zeitschrift Nature Communications veröffentlichten Studie einer Gruppe von Wissenschaftlern der Welternährungsorganisation FAO, der Universtäten Aberdeen, Klagenfurt und Zürich unter Federführung des Forschungsinstituts für biologischen Landbau (FiBL), könnte Bio-Landbau alle Menschen satt machen. Selbst neun Milliarden Menschen (prognostiziert für 2050) könnten damit ernährt werden, ohne mehr Land für den Anbau zu brauchen – vorausgesetzt, dass weniger tierische Produkte gegessen, weniger Nahrungsmittel weggeworfen und in der Tierhaltung weniger Kraftfutter wie Getreide und Soja (und dafür mehr Gras) verfüttert würden.

Laut der am 10. Oktober 2022 veröffentlichten Studie „The Sustainable Food Revolution“ der Unternehmensberatung „PWC Strategy&“ werden derzeit etwa 80 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche direkt oder indirekt für die Fleischproduktion verwendet.
Über 40 Prozent der weltweiten Getreideproduktion dient als Viehfutter und steht somit nicht für die direkte menschliche Ernährung zur Verfügung.
Über ein Drittel aller Feldfrüchte weltweit landet in den Mägen von Nutztieren – allein eine Milliarde Tonnen Soja und Mais jährlich. (Fleischatlas. Daten und Fakten über Tiere als Nahrungsmittel, 2021, S. 16) „Etwa 70 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche – Grasland als Weiden sowie Äcker für den Anbau von mehr Futter – werden für die Viehzucht genutzt. (…). Inzwischen werden rund 40 Prozent des Ackerlandes auf der Welt zur Futtermittelproduktion genutzt.“ (Ebd. S. 22)
Laut einer Mitteilung des WWF vom 24. Juni 2022 endet derzeit mindestens die Hälfte der EU-Getreideproduktion als Futtermittel im Trog. – Laut vorläufiger Zahlen des Bundesinformationszentrums Landwirtschaft werden in Deutschland 58,2 Prozent des Getreides (25,0 Tonnen) an Tiere verfüttert. 14 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche Deutschlands wird für den Anbau von Nutzpflanzen für Biogas und Biotreibstoffe verwendet.

Laut einer Mitteilung des WWF vom 11. Oktober 2022 wird allein für die Herstellung von in Deutschland verbrauchten Agrokraftstoffen weltweit eine landwirtschaftliche Fläche von rund 2,5 Millionen Hektar belegt. Sie steht damit für die menschliche Ernährung nicht zur Verfügung.

Die sechs Pflanzen mit den größten Flächenzuwächsen der letzten 20 Jahre sind Mais, Palmöl, Soja, Zuckerrohr, Raps und Cassava. Ihre weltweite Anbaufläche ist seit dem Jahr 2000 um 51,1 Prozent oder 145 Millionen Hektar gewachsen. Sie alle dienen in erster Linie als Futtermittel, Energiepflanzen, für die Bioplastik-Produktion und andere industrielle Nutzungen. Die globale Ackerfläche von Mais ist von 137 Millionen Hektar auf 197 Millionen Hektar regelrecht explodiert. Mit einem Zuwachs von 60 Millionen Hektar – also der fünffachen Ackerfläche Deutschlands! – ist Mais weltweit am stärksten expandiert. Jedoch werden gerade einmal 15 Prozent der globalen Maisernte für die direkte Ernährung verwendet. Während also die Anbauflächen für Tierfutter, Biosprit oder Bioplastik stark gewachsen ist, stagnieren die Flächen für Grundnahrungsmittel. Die Entwicklung der letzten 20 Jahre zeigt letztendlich, dass die Ernährung der Hungernden nicht im Fokus der dominanten Agrarproduzenten – Staaten wie Konzernen – liegt.

Das Wertpapier-Geschäft mit Agrarrohstoffen steht zumindest im Verdacht, Preise für Nahrung zu treiben und Hunger zu verursachen. Deutsche Finanzinstitute hatten nach Berechnungen der Hilfsorganisation Oxfam 2012 rund elf Milliarden Euro in Spekulationsgeschäften mit Agrarrohstoffen stecken. 10,4 Milliarden Euro entfielen auf Allianz und Deutsche Bank, die mit der Verwaltung dieser Fonds 102 Millionen Euro verdienten.
Einer am 28. April 2017 veröffentlichten Studie des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung zufolge haben starke Preissteigerungen für Weizen in den vergangenen vier Jahrzehnten ihre Ursachen in Wetterextremen und in der Handelspolitik gehabt. Dagegen hätten sich weder Spekulationen auf den Rohstoffmärkten noch die Nutzung von Landflächen für die Produktion von Biosprit entscheidend auf Weizenpreise ausgewirkt.

Der Schlüssel im Kampf gegen Hunger und Mangelernährung liegt in der ländlichen Entwicklung. Rund 80 Prozent der weltweiten Nahrungsmittel werden von Kleinbauern und Kleinbäuerinnen produziert. Paradoxerweise sind aber auch die Hälfte der weltweit Hungernden Kleinbauern und Kleinbäuerinnen – vor allem, weil sie seit Jahrzehnten von Regierungen weltweit vernachlässigt wurden. Die Kleinbauernfamilien könnten sich selbst ausreichend ernähren, wenn sie das notwendige Wissen, eine intakte Infrastruktur und faire Handelsbedingungen hätten. Sie könnten sogar die städtische Bevölkerung mit gesunden Produkten aus der Region versorgen.
Eine ökologische Landwirtschaft, die auf dem Erhalt der Böden, der Artenvielfalt, dem eigenen Saatgut, alten Kulturpflanzen und auf sozialem Zusammenhalt basiert, kann die Welt nachhaltig mit gesunden Nahrungsmitteln versorgen.

Laut Gutachten des wissenschaftlichen Beirates des Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft „Politik für eine nachhaltige Ernährung“ vom Juni 2020 gibt es „auch in Deutschland armutsbedingte Mangelernährung und teils auch Hunger“. Zwei Studien aus dem Jahr 2022 untermauern diese Warnung.

 

Literatur:

  • Handbuch Welternährung, Bonn 2011, Bundeszentrale für politische Bildung, Bestellnummer: 1153
  • Jean Feyder: Mordshunger. Wer profitiert vom Elend der armen Länder?, Verlag Westend, Frankfurt 2010
  • Welternährung. Global denken – lokal säen. Politische Ökologie Nr. 128, Oekom Verlag, März 2012
  • Jean Ziegler [ehemaliger UN-Sonderbeauftragter für das Recht auf Nahrung], Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt. C. Bertelsmann Verlag 2012
  • Harald Schumacher, Die Hungermacher. Fischer-Verlag, 2013
  • Martín Caparrós, Der Hunger. »Wie zum Teufel können wir weiterleben, obwohl wir wissen, dass diese Dinge geschehen?« Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg und Hanna Grzimek, Suhrkamp Verlag, Berlin 2015
  • Felix zu Löwenstein, Es ist genug da. Für alle. Wenn wir den Hunger bekämpfen, nicht die Natur, Verlagsgruppe Droemer Knaur, München 2015
  • Manfred Heuser, Zeitbombe Welthunger. Massengräber, Exodus oder Marshallplan, Tectum Verlag, Baden-Baden 2017
  • Vandana Shiva, Wer ernährt die Welt wirklich? Das Versagen der Agrarindustrie und die notwendige Wende zur Agrarökologie, Neue Erde Verlag, Saarbrücken 2021
  • ARMUT MACHT HUNGER. Fakten zur globalen Ernährung 2021, Heinrich-Böll-Stiftung
  • Christelle Gérand, Der gemachte Hunger, in: Le Monde diplomatique, Juli 2022
  • Urs Niggli, Alle satt? Ernährung sichern für 10 Milliarden Menschen, Residenz Verlag, Salzburg-Gnigl 2021
  • Roman Herre, Spekulative Preise. Die Das Recht auf Nahrung wird dabei nicht ausreichend geschützt, Frankfurter Rundschau vom 18. Januar 2023

Film:

  • Valentin Thurn, 10 Milliarden – wie werden wir alle satt? (2015)

 


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