Wolfgang Sternstein, War Jesus der Christus (Messias)?

War Jesus ein Apokalyptiker?

Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, was wir unter Apokalypse verstehen. Verstehen wir darunter die Erwartung einer Endzeitkatastrophe, in der Gott die alte Welt vernichtet und eine neue schafft, in der es keinen Satan und kein Böses mehr gibt (Jesaja-Apokalypse, Endzeitreden des synoptischen Jesus, Endzeiterwartung bei Paulus und den frühen Christen, Johannesapokalypse), so lautet die Antwort der historisch-kritischen Bibelexegese: Nein, Jesus war kein Apokalyptiker in diesem Sinn. Verstehen wir darunter jedoch ein Verständnis der Geschichte als Abfolge von Zeitaltern (Äonen) wie bei Daniel 2,31-45, so war Jesus zweifelsfrei ein Apokalyptiker. Das geht aus einer Reihe von Jesusworten, die als authentisch gelten (Lk 16,16; Lk 10,18; Lk 11,20), hervor.

Im Folgenden entwerfe ich ein Szenario, das m.E. den in der Bibel gechilderten Ereignissen im Palästina der Jahre 27-30 n. Chr. nahe kommt und zugleich mit der nüchternen Weltsicht unserer Tage vereinbar ist:

Jesus kommt nach seinen Wanderjahren, in denen er Land und Leute im damaligen Palästina, sicherlich auch die diversen Glaubensgemeinschaften der damaligen Zeit (Pharisäer, Sadduzäer, Essener, Samaritaner, Zeloten, Sikarier usw.) kennen lernte, zu Johannes dem Täufer an den Jordan. Er lässt sich taufen und gehört einige Zeit zum Jüngerkreis des Johannes. Die asketische Gestalt des Johannes hinterlässt einen tiefen Eindruck bei ihm. Er übernimmt zunächst auch dessen apokalyptische Naherwartung. Doch dann kommt es zu einer entscheidenden Wende in seinem Leben in Form einer ihn zutiefst erschütternden Gotteserfahrung, die er zugleich als Berufung erlebt. Er erfährt Gott als den Gott der Liebe, der mit der Gottesvorstellung seiner Zeitgenossen nur wenig zu tun hat. Der Gott des Alten Testaments ist, wie in meinem Buch „Gandhi und Jesus. Das Ende des Fundamentalismus“ dargelegt, vornehmlich nach dem Bild des orientalischen Despoten geschaffen. Er ist einerseits der das Volk Israel auserwählende, liebende, den Gehorsam üppig belohnende Herrscher und andererseits der eifernde, eifersüchtige, zornige, gewalttätige, rächende, den Ungehorsam grausam strafende, richtende und vernichtende Gott. Beide Seiten dieses Gottes gehören untrennbar zusammen. Dass es daneben auch spurenweise ein anderes Gottesbild gibt, an das Jesus mit seiner Botschaft anknüpfen kann, sei unbestritten (siehe Gandhi und Jesus, S. 72 ff).

Jesu Gotteserfahrung liegt m.E. die Einsicht zugrunde, dass dem Satan (dem Bösen) kein  Sein zukommt. In der Sprache und Vorstellungswelt seiner Zeit findet diese Erfahrung ihren Niederschlag in dem Jesuswort Lk 10,18: „Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen.“ Aus dieser Gotteserfahrung, die mit dem Gottesbild des Alten Testaments nur wenig zu tun hat, erklärt sich der ansteckende Enthusiasmus, mit dem Jesus den Anbruch eines neuen Äon, d.h. den gegenwärtigen Anbruch des Gottesreiches verkündet, in dem das Böse keine Macht mehr hat. Er ist überzeugt, da Satan (dem Bösen) kein Sein zukommt, steht der Ausbreitung des Gottesreiches über die ganze Welt nichts mehr im Wege. Er sammelt eine kleine Gemeinde um sich, die den gegenwärtigen Anbruch der Gottesherrschaft nicht nur verkündet, sondern auch lebt, es gleichsam verkörpert als eine Gemeinschaft, die Gottesliebe, Fremdenliebe, Nächstenliebe, Feindesliebe und vielleicht auch Naturliebe zu praktizieren sich bemüht. Diese Gemeinde sieht er als das Senfkorn und den Sauerteig der Wachstumsgleichnisse. Er sieht sie als die selbstwachsende Saat (Mk 4,26-28), die nichts und niemand aufhalten kann.

Nachdem er eine Zeitlang in Galiläa gewirkt hat, mehr als Wundertäter gefeiert, denn als Verkündiger der Gottesherrschaft ernst genommen, beschließt er, mit seiner kleinen Gemeinde nach Jerusalem, dem Zentrum des religiösen Judentums, zu ziehen, um dort den gegenwärtigen Anbruch der Gottesherrschaft zu verkünden. In Jerusalem kommt es dann zum Zusammenstoß zwischen Jesu enthusiastischer Botschaft und der Realität dieser Welt, in der das Böse keineswegs entmachtet ist, in der vielmehr „Satan“ sich daran macht, das „Senfkorn“ des Gottesreiches zu zertreten.

Das Bild, das Jesus vom Tempelkult in Jerusalem hatte, war anfangs durchaus positiv, denn es war im relativ fernen Galiläa mythisch überhöht durch den Glanz des herodianischen Tempels. Die Realität, die er in Jerusalem vorfand, war freilich ganz anderer Natur. Er erkannte rasch, dass es sich bei der Tempelpriesterschaft und ihrem Anhang um eine Krake handelte, die in enger Zusammenarbeit mit der zweiten Krake der römischen Besatzungsmacht unter dem Deckmantel der Religion dem Volk den letzten Blutstropfen aussaugte. Für Jesus und seine kleine Gemeinde muss das eine bittere Enttäuschung gewesen sein. Er konnte sich damit nicht abfinden und griff die Herrschaft der Tempelpriester mit scharfen Worten an. Die Zeichenhandlung der „Austreibung der Wechsler aus dem Tempel“ gehört in diesen Zusammenhang. Die Tempelpriesterschaft und ihre Geschäftspartner, die im Hohen Rat den Ton angaben, waren davon natürlich nicht erbaut. Sie ließen Jesus von der Tempelwache gefangennehmen und lieferten ihn mit der Beschuldigung, er sei ein Aufrührer (Zelot) gegen die römische Besatzungsmacht an die Römer aus, die ihn unverzüglich hinrichteten.

Jesus blieb die Erfahrung der Macht des Bösen in dieser Welt folglich nicht erspart. Ich bin überzeugt, er hielt bis zuletzt an seinem Glauben fest, dass dem Satan (dem Bösen) kein Sein zukommt, sondern dass Gott allein wirklich ist. Rein äußerlich betrachtet, hat Satan Jesus besiegt, in Wahrheit aber hat Jesus Satan besiegt, indem er sich weigerte, seine Feinde zu hassen. Das war, so meine ich, die Erkenntnis, die Petrus in Gestalt einer Auferstehungsvision zuteil wurde. Was sich daraus entwickelte, brauche ich nicht im Einzelnen darzustellen.

Die Tragik dieser Geschichte besteht darin, dass die Jünger Jesus bereits zu seinen Lebzeiten zum Messias ausrufen wollten und es schließlich durch die Botschaft von der Auferstehung Jesu als Messias und seine in naher Zukunft zu erwartende Wiederkehr dann auch getan haben als Jesus sich nicht nicht mehr dagegen wehren konnte. Bereits an diesem frühen Punkt also erfolgte die falsche Weichenstellung in Richtung auf den Auferstehungsglauben, den Messias(Christus)glauben, den Menschensohnglauben und schließlich den Gottessohnglauben im Sinne des Dogmas. Hätten die Jünger den Sieg Jesu über das Böse ohne den Messiasanspruch verkündet, so hätten die Christen der zweiten Generation ihn nicht bereits zum Gott in Menschengestalt, als der er in den Evangelien erscheint, machen können. Die Botschaft Jesu vom gegenwärtigen Anbruch des Gottesreiches wäre nicht so rasch in den Hintergrund getreten. Sicherlich hätten die Christen, wo immer sie auftauchten, um am Aufbau des RG in dieser Welt zu arbeiten, die Verfolgung durch die Reiche dieser Welt auf sich gezogen, sei es des Römischen Reiches, sei es all der Reiche, die ihm folgten. Sie hätten das Schicksal Jesu geteilt, das Böse zu besiegen, indem sie es ohne Hass oder den Wunsch nach Vergeltung erleiden. Stattdessen machten sie den Verkündiger zum Verkündigten, den Glaubenden zum Geglaubten, den Befreier zum Erlöser und bahnten damit den Weg, auf dem die Christenheit aus einer leidenden zur siegenden, aus einer demütigen zur triumphierenden und aus einer gewaltfreien zu einer gewalttätigen und Gewalt rechtfertigenden Kirche wurde.

Fazit: Ich warne vor einer Überschätzung des Bösen, die ihm ein (metaphysisches) Sein zuspricht, Satan gewissermaßen zum Gegenspieler Gottes macht, der am Ende der Tage von Gott und den himmlischen Heerscharen vernichtet wird. Ich warne aber auch vor einer Unterschätzung des Bösen in dieser Welt, wie sie offensichtlich dem historischen Jesus unterlief. Das Böse ist eine dämonische Macht, nicht nur ein defizienter Modus, eine Krankheit oder ein Entwicklungspotenzial. Alles, was ich in diesem Essay geschrieben habe, fügt sich nahtlos in die Darstellung meines Buches über „Gandhi und Jesus“ ein. Wer mehr daüber erfahren will, möge es lesen.


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