Klaus Simon, Hier und jetzt, nicht irgendwann

Worauf wollte Jesus mit seiner Reich-Gottes-Botschaft hinaus? Niemand weiß das ganz genau. Doch die Überlieferung lässt deutliche Rückschlüsse zu.

Es besteht ein ungebrochenes Interesse am historischen Jesus, und es ist klar warum: Die Evangelisten betonen die Bedeutung der Geschichte für den Glauben. Der Christus des Glaubens kann nicht getrennt werden vom historischen Jesus, wenn wir vermeiden wollen, dass „ein Mythos an die Stelle der Geschichte … tritt“ (Ernst Käsemann). Wir können also vom historischen Jesus nicht einfach absehen.

Aber es gibt keine objektiven Daten zur Person Jesu. Was wir wissen ist vom Glauben der Urgemeinde geprägt. Deshalb begann bereits in den 1960er Jahren eine Neuausrichtung der Frage nach Jesus. Man suchte Informationen über ihn nun nicht mehr vergeblich außerhalb der Überlieferung. Vielmehr müssten doch die überlieferten Worte immerhin Rückschlüsse auf Jesus ermöglichen. Die Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas liefern das Material dazu. Sie heißen synoptisch: zusammenschauend, nebeneinandergereiht. Im Zentrum der erzählten Jesusworte steht die Botschaft vom Reich Gottes (auch Gottesherrschaft, basileia tou theou). Dieser Begriff meinte damals eine Welt, in der Gottes Wille Beachtung findet, Gottes Nähe und Liebe erfahrbar wird – eine Welt wie sie eigentlich sein soll. Quellen aus damaliger Zeit erwarten das Hereinbrechen des Gottesreiches unmittelbar bevorstehend: als apokalyptische Vernichtung der alten Welt und Aufrichten eines Reichs der Gerechtigkeit durch Gott. Auch die synoptischen Evangelien stehen unter solcher Erwartung. Zugleich enthalten sie aber noch Jesusworte anderer Art: Kommt denn es ist schon bereit! Das Gottesreich ist mitten unter euch!

Folgt man dem Altsprachler Meinrad Limbeck, so bringt der Evangelist des Markusevangeliums in Kapitel 1 Vers 15 die Auffassung Jesu auf den Punkt: „Die Zeit ist voll, das Reich Gottes ist da!“. Das im griechischen Text verwendete Verb ‚nahen’ steht in der Perfektform, d.h. das Nahen des Gottesreichs ist abgeschlossen. Ebenso sieht der renomierte Neutestamentler Gerd Theißen in diesen Worten die Beschreibung eines „bereits abgeschlossenen Vorgangs“, und auch in einigen Jesusworten ist nach Theißen das Reich Gottes zweifelsfrei eine gegenwärtige Größe. Der evangelische Pfarrer Claus Petersen zählt insgesamt 21 Jesusworte der synoptischen Evangelien, welche die Gegenwärtigkeit des Gottesreiches sowie unser Leben darin zum Thema haben.

Diese Jesusworte stehen nun allerdings in erheblicher Spannung zu jenen, welche den Anbruch des Gottesreiches erst später erwarten, wie z.B.: „Diese Generation wird nicht vergehen, bis das alles eintrifft“ (Mk 13,30). Das Problem lässt sich wohl kaum durch die Annahme lösen, Jesus habe hinsichtlich seines zentralen Themas eben mal dies und mal das behauptet. Gerd Theißen möchte gerade nicht das Charakteristische der Predigt Jesu „im unausgeglichenen Nebeneinander von gegenwärtigen und zukünftigen Aussagen über Gottes Herrschaft“ sehen, sondern darin, dass Jesus glaubte, „die zukünftige Basileia sei schon angebrochen“. Und so hält Theißen zum „Gottesreich in eurer Mitte“ (Lk 17,21) folgende Deutung für möglich: die Gottesherrschaft ist in eurer Verfügung, in eurem Erfahrungsbereich! Zugleich scheint der Widerspruch zum Kontext der Evangelien unauflöslich, so dass er schreibt: „Das Wort bleibt ein Rätsel“.

Man kann nun dieses und ähnliche Rätsel näher untersuchen, wenn man hinter die synoptischen Evangelien zurückgeht und die Entwicklung der Reich-Gottes-Aussagen in frühen Textschichten betrachtet. Das Matthäus- und das Lukasevangelium haben ihre Wurzeln einerseits im Markusevangelium und andererseits in einer verschollenen Spruchsammlung. Diese Sammlung wurde rekonstruiert und ist als Logienquelle Q bekannt. 1945 wurde zudem eine weitere Spruchsammlung aufgefunden: das Thomasevangelium. Es gibt viele Parallelen zwischen beiden, und trotzdem stehen sie in einem eigenartigen Verhältnis. Die Exegeten Helmut Koester und James M. Robinson haben die Zusammenhänge seit den 1970er Jahren untersucht. Die von ihnen aufgedeckten Entwicklungslinien gelten heute als grundlegender Neuansatz in der Auslegung frühchristlicher Literatur. Dabei ist zu unterscheiden:

  • Eine frühe Spruchsammlung, in der zukünftig-apokalyptische Erwartungen vollständig fehlen. Stattdessen ist die Gegenwart des Gottesreiches das beherrschende Thema. Worte dieses Stadiums sind noch immer in Q, in den synoptischen Evangelien und im Thomasevangelium zu finden.
  • Eine spätere Fassung, die uns in Q begegnet: Hier wurde erstmals die apokalyptische Erwartung des Menschensohns und „seines Tags“ eingebracht.
  • Die synoptischen Evangelien mit ihrer ausführlichen Darstellung des nun zukünftig verstandenen Gottesreiches (sog. synoptische Apokalypse: Mk 13; Mt 24-25; Lk 21).

Das Thomasevangelium und Q kennen weder die synoptische Apokalypse noch das Vokabular der Auferstehung. Und obendrein kommt im Thomasevangelium die Menschensohn-Erwartung in keiner Form vor. Der Neutestamentler Bernhard Heininger charakterisiert die Quellenlage deshalb so: „Während die Logienquelle oder Paulus überwunden geglaubte apokalyptische Konzepte, wenn auch christologisch gebrochen, wieder aufleben lassen und folglich die Durchsetzung der Gottesherrschaft erst in der Zukunft erwarten, hält das Thomasevangelium am gegenwärtigen und diesseitigen Charakter des Reiches Gottes fest“.

Offensichtlich bestand ein Prozess des Wachsens und der Umschichtung. Hintergrund ist die damalige Auseinandersetzung der sich formierenden Großkirche mit einer anderen starken christlichen Strömung: der Gnosis. Gegen diese wurde Q positioniert und weitergeschrieben, im Gegenzug erfuhr das Thomasevangelium immer stärkere gnostische Überformung. Auf Seiten der Großkirche führte die Entwicklung von einer frühen Fassung der Spruch-Quelle zu späteren Fassungen und von da aus zu den Evangelien. Dabei wurden in „bemerkenswertem Ausmaß“ christologische und apokalyptische Belege hinzugefügt, die ursprünglichen Worte jedoch nicht vollständig getilgt. Die Entwicklung von den frühen Worten hin zu Q – und nicht in umgekehrter Richtung – kann Helmut Koester anhand einer Analyse von Parallelstellen zeigen.

Vielleicht wird weitere Forschung diese Ergebnisse vertiefen oder widerlegen. Zum jetzigen Kenntnisstand spricht jedenfalls vieles dafür, dass die zukünftig-apokalyptische Erwartung des Gottesreiches späteren Überlieferungsschichten angehört und im Gegensatz zur frühen Jesus-Überlieferung steht. Jesus hat offenbar die Gegenwart des Gottesreiches verkündet. Dabei ist ihm völlig klar, dass es nicht um eine einseitige Deklaration gehen kann. Das Reich Gottes, die Welt in der Gottes Wille Beachtung findet, ist angewiesen auf Menschen, die diesen Willen beachten wollen! Nur so können nach Jesu Überzeugung Gewaltfreiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Frieden umsichgreifen. Davon handeln seine Wachstumsgleichnisse. Das Spannungsfeld von ‚schon gegenwärtig’ und ‚noch nicht voll verwirklicht’ lässt sich somit einfach erklären. Seitens Gott steht nichts mehr aus, auf das wir warten müssten. Aber es steht aus, dass wir am Tische des Reiches Gottes Platz nehmen: Wir sind eingeladen, mit der Göttlichkeit dieser Welt in Einklang zu kommen und aus der so veränderten Wahrnehmung heraus zu einer verständnisvolleren Lebensweise zu finden.

Quellen:

Helmut Koester, James M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums
J.C.B. Mohr, Tübingen 1971

James M. Robinson,  Kerygma und historischer Jesus
Zwingli Verlag, Zürich/Stuttgart 1960

James M. Robinson, Jesus und die Suche nach dem ursprünglichen Evangelium
Vandenhoek & Rupprecht 2007

Gerd Theißen und Annette Merz, Der historische Jesus
Vandenhoek & Rupprecht 1996

Meinrad Limbeck, Das Reich Gottes ist da!, Abschiedsvorlesung
Katholisches Bibelwerk 2000

Claus Petersen, Die Botschaft Jesu vom Reich Gottes
Kreuz 2005

Bernhard Heininger, Die Basileiaverkündigung Jesu im Thomasevangelium
in: Bibel und Kirche 2/2007

Der Artikel ist in leicht veränderter Form in Publik-Forum Nr.15/2013, S.32ff. erschienen


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