Claus Petersen, Feiern wie bei Jesus

Feiern wie bei Jesus.

Die evangelische Kirche sollte die Abendmahlsliturgie radikal verändern

 

In: Zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu  Religion und Gesellschaft, Januar 2004

 

In der kirchlichen Tradition wird das Abendmahl eng mit dem Kreuzestod Jesu verknüpft. Der Nürnberger Pfarrer Claus Petersen sieht darin eine Engführung. Der promovierte Theologe plädiert in seinem Diskussionsbeitrag dafür, das Protestanten in Zukunft das Reich Gottes in den Mittelpunkt stellen, wie es der historische Jesus getan habe.

Nicht die Kirche, sondern Christus lädt zum Abendmahl ein.“ Das betonen Protestanten oft, wenn sie begründen, warum die evangelische Kirche alle Christen zum Abendmahl einlädt und ihnen eucharistische Gastfreundschaft gewährt. Aber wozu lud Jesus eigentlich ein, als er mit anderen Tischgemeinschaft hielt? Diese theologische Grundfrage wird leider nicht gestellt. Ich behaupte: Die Kirche lädt mit ihrer herkömmlichen Abendmahlsliturgie nicht in den Raum ein, den Jesus mit seinen Tischgemeinschaften den Menschen eröffnet hat, sondern allenfalls in ein Nebenzimmer. Und sie verhindert so eine neue, religiöse Deutung dieser Welt und dieses Lebens. Wohl wissend, dass das, was wir heute über Jesus und seine Botschaft erfahren, der üblichen, durchweg auf postjesuanischen Überlieferungen fußenden Abendmahlspraxis an die Wurzeln ginge, soll eine inhaltliche Diskussion offenbar gar nicht erst aufkommen.

Der Rat der EKD gab im vergangenen Jahr unter dem Titel „Das Abendmahl“ eine „Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Abendmahls in der evangelischen Kirche“ heraus. Sie beschreibt nach den Worten des Alt-Ratsvorsitzenden Manfred Kock den „stiftungsgemäßen Kern“ evangelischen Abendmahlsverständnisses und verdeutlicht gerade in Bezug auf das Gespräch mit der römisch-katholischen Kirche die breite gemeinsame theologische Basis einer „stiftungsgemäßen Feier“ des Abendmahls.

Neben der Vermittlung von Basisinformationen hat die EKD-Schrift eine klare Absicht. Sie will eine Veränderung der so genannten „Einsetzungsworte“ unter allen Umständen verhindern. Als Begründung verweist sie auf die reformatorischen Bekenntnisschriften. Denn „in den Bekenntnissen der Reformation ist die Bedeutung dieser konstitutiven Elemente mit der Aussage unterstrichen worden, dass die Sakramente – und also auch das Abendmahl – in der Kirche ,dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden sollen‘ bzw. ,laut dem Evangelium gereicht werden‘ (Augsburger Bekenntnis von 1530, Artikel 7). Das impliziert zunächst, dass die entsprechenden Worte des Evangeliums, also die Einsetzungsworte, in unverfälschter Weise zitiert werden müssen. Nur durch die wörtliche Rezitation der Einsetzungsworte nach einem der neutestamentlichen Zeugen oder in der historischen Mischform der biblischen Texte ist sichergestellt, dass das Sakrament gemäß seiner ursprünglichen Intention unverfälscht im Gottesdienst gefeiert wird und nicht durch individuelle theologische Deutungen oder liturgische Einfälle überlagert wird.“

Sicher, das Augsburger Bekenntnis von 1530 legt fest, dass „die heiligen Sakramente laut dem Evangelium“ zu reichen sind. Aber kann dabei unberücksichtigt bleiben, was wir inzwischen über Jesus und sein Evangelium wissen? Besagt der evangelische Grundsatz „allein die Schrift“ nicht, auf das Wort der Schrift in seiner ursprünglichen Bedeutung zu hören? Dieser – das Wort der Schrift als alleiniges Kriterium wirklich ernst nehmende und implizit selbstkritische – Ansatz ist es doch gewesen, der die Bibelwissenschaft zu einem Glanzstück protestantischer Theologiegeschichte werden ließ. Nur wenn unverrückbar und mit allen Konsequenzen an ihm festgehalten wird, kann der hohe evangelische Anspruch aufrechterhalten werden, dass die Kirche immer wieder zu reformieren sei. Ja, das Schriftprinzip ist geradezu der Schlüssel, um sich den Herausforderungen des Evangeliums zu stellen. Und dabei geht es nicht um die Botschaft des Paulus oder der Evangelisten, sondern um die Botschaft Jesu. Weshalb sollte die liturgische Praxis in der evangelischen Kirche davon ausgenommen sein?

Die Verkündigung Jesu von Nazareth muss also aus theologischer und historischer Sicht das erste Kapitel bilden, wenn es darum geht, den biblischen Befund zu erheben. Die EKD-Schrift setzt dagegen bei Paulus ein, befragt dann Matthäus, Markus und Lukas und kommt erst an dritter Stelle und ganz zum Schluss auf Jesus von Nazareth und die ersten Christen zu sprechen: Sie widmet Jesus nicht einmal einen eigenen Abschnitt.

Falsche Übersetzung

Als charakteristisch für die Botschaft Jesu ist im Zusammenhang des Abendmahls das Gleichnis von der Einladung zum großen Gastmahl (Lukas 14). Der Herr schickt seinen Diener aus, um den Eingeladenen mitzuteilen: „Kommt, denn es ist schon bereit!“ (Vers 17; Luther übersetzt fälschlich und verfälschend: „Kommt, denn es ist alles bereit!“) Das Fest soll beginnen, das Reich Gottes ist angebrochen. Das ist die zentrale Aussage dieses Gleichnisses. Darin besteht das absolut Neue der Botschaft Jesu. Und jetzt stellt sich heraus, dass alle Adressaten zwar grundsätzlich erwartet haben, irgendwann einmal zum großen Mahl eingeladen zu werden, sprich: dass das Reich Gottes in (ferner) Zukunft einmal anbrechen werde. Aber sie haben offensichtlich nicht im Entferntesten damit gerechnet, dass diese Zeit eben jetzt schon gekommen sein könnte. Alle meinen, sich entschuldigen lassen zu müssen, sie bleiben dem Gastmahl fern und vertun damit leichtfertig die Chance, jetzt des Reiches Gottes teilhaftig zu werden.

Und genau deswegen sind die Tischgemeinschaften, die Jesus ja nicht erst am Abend vor seiner Hinrichtung, sondern immer wieder mit seinen Leuten gefeiert hat, ein so charakteristisches, zentrales Element seiner Verkündigung. Sie sind nichts weniger als konkreter Ausdruck, ja geradezu Vollzug seiner Botschaft, dass die Welt, in der Gottes Wille geschehe, tatsächlich angebrochen, „in eurer Mitte“ sei (Lukas 17,21). Diese gänzlich neue Deutung der Welt und des Lebens hat Jesus tatsächlich gestiftet. Er hat die Tischgemeinschaft – unser Abendmahl – eingesetzt, als Feier des Reiches Gottes hier und jetzt. Die so genannten „Einsetzungsworte“ aber sprach er nie.

Die neutestamentlichen Abendmahlsperikopen – so unterschiedlich sie sich im Einzelnen auch darstellen – sind allesamt von der erst in postjesuanischer Zeit entwickelten Christologie und Kreuzestheologie bestimmt. „Alle Texte zu diesem letzten Mahl Jesu verdanken sich liturgischer Gestaltung, die die Mahlfeiern der einzelnen Gemeinden widerspiegeln. Kein Text will berichten, was einst war, sondern begründen, warum die Gemeinde das Herrenmahl gerade so feiert, wie sie es tut“, betont der Neutestamentler Jürgen Becker. Ein Bezug zur Reich-Gottes-Botschaft Jesu, dem tragenden Grundelement der jesuanischen Tischgemeinschaften, fehlt vollkommen. Das Evangelium vom Reich Gottes ist durch die Person des sühnestiftenden Erlösers Christus ersetzt worden. An die Stelle des großen Gastmahls des Reiches Gottes ist eine kultische Feier getreten. Brot und Wein werden nicht als Zeichen einer neuen Gesellschaft und des Festes verstanden, sondern als der zur Sühne der Sündenschuld gebrochene Leib und das zur Vergebung der Sünden vergossene Blut. Der von der ganzen Gemeinde gesprochene Satz: „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit“, fasst dieses nachjesuanische Verständnis prägnant zusammen. So steht das in unseren Kirchen gefeierte Abendmahl in keiner Verbindung mehr mit dem Festmahl der Präsenz des Reiches Gottes, zu dem Jesus von Nazareth eingeladen hat.

Weder das Wort der Schrift noch erst recht Jesus von Nazareth gebieten, an den neutestamentlichen so genannten Einsetzungsworten oder an der historischen Mischform der biblischen Texte festzuhalten. Nachdem die historisch-kritische Exegese die ursprüngliche Bedeutung der Tischgemeinschaften Jesu ganz neu erschlossen hat, ist dies weder nachvollziehbar noch theologisch zu begründen. Der reformatorische Auftrag unserer Kirche besteht in der lebendigen Auseinandersetzung mit der Tradition, insbesondere mit der neutestamentlichen Jesusüberlieferung, nicht aber darin, die von den Reformatoren geübte Abendmahlspraxis festzuschreiben. Man ist versucht, unter Abwandlung eines bekannten Diktums Adolf von Harnacks zu formulieren: Die nachjesuanische Abendmahlsliturgie sofort, um der Bewahrung der jesuanischen Botschaft vom Reich nach Gottes Willen zu verwerfen, war der Kirche unter den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie sich bildete und um ihr Überleben kämpfte, vielleicht nicht möglich. Sie im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformatoren wegen des noch nicht zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Werkzeugs nicht zu entziehen vermochten. Es aber im Jahr 2003 ausdrücklich durch eine Verlautbarung der EKD als kanonisch-verpflichtenden Text noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung.

Fest des Reiches Gottes

Müsste das Befreiungs- und Zukunfts-potential, das der Botschaft Jesu innewohnt und sich gerade in den Tischgemeinschaften so anschaulich und konkret entfaltet, jetzt nicht endlich wieder aufgegriffen und bewusst gemacht werden? Jesus feierte mit seiner Gemeinschaft die Präsenz des Reiches Gottes. Ist es nicht an der Zeit, jetzt endlich wieder daran anzuknüpfen? Ja, enthält das reformatorische Bekenntnis nicht geradezu die Verpflichtung, die Erkenntnisse biblischer Theologie auch umzusetzen, damit Brot und Wein wirklich laut dem Evangelium gereicht werden, nämlich so, wie wir das jesuanische Evangelium inzwischen zu verstehen gelernt haben?

Welche Chancen böte ein neues, an die Reich-Gottes-Botschaft Jesu anknüpfendes Abendmahlsverständnis? Wie sehr braucht unsere Welt gerade heute den Glauben an das Reich Gottes, an eine im Grunde gute, „sehr gute“ Welt (Genesis 1,31)? Wie nötig sind Menschen, die dem Reich Gottes gemäß leben wollen? Die Feier des Abendmahls als ein Fest des Reiches Gottes lüde immer wieder dazu ein. Alle Engagierten würden beim Abendmahl Ermutigung und Stärkung finden, wenn mit ihm die Gerechtigkeit, der Frieden und die Heiligkeit der Welt und allen Lebens gefeiert würden. Nicht um die Realpräsenz Jesu geht es, sondern um die Realpräsenz des Reiches Gottes.

Ich selber verspüre dies immer wieder, wenn ich eine Mahlfeier ihrem jesuanischen Ursprung entsprechend zu gestalten versuche. Anstelle der so genannten „Einsetzungsworte“ verwende ich Worte zu Brot und Wein, wie sie dem Evangelium Jesu vom herbeigekommenen Reich Gottes entsprechen dürften:

„Auf dem Altar stehen Brot und Wein, Zeichen des Reiches Gottes, das Gegenwart ist und das jetzt schon beginnt. Jesus hat es immer wieder und noch in der letzten Nacht mit seinen Leuten gefeiert. Er nahm das Brot, dankte und teilte es aus: Brot des Lebens. Er nahm den Kelch, dankte und teilte ihn aus: Kelch des Heils. Durch Brot und Wein empfangen wir die Kraft zu einem neuen Leben, werden befreit zur Freude, zur Einfachheit und zur Barmherzigkeit. Brot und Wein sind Zeichen des Reiches Gottes, in dem wir Menschen in Frieden miteinander leben und in Einklang mit unserer Mitwelt, in dem Lüge ein Fremdwort ist, Tränen getrocknet werden und niemand mehr lernt, Kriege zu führen, in dem alle das Leben haben und es in Fülle haben. Wir feiern es jetzt, denn es ist mitten unter uns.“

Dem heutigen theologischen Wissensstand und bester reformatorischer Tradition angemessen wäre, wenn die EKD eine Kommission einsetzte mit dem Auftrag, zumindest eine jesuanische Alternative zur überkommenen Abendmahlsliturgie zu entwickeln – damit in unserer Kirche endlich dazu eingeladen würde, wozu Jesus von Nazareth einzuladen sich berufen wusste: zur Feier des Reiches Gottes hier und jetzt!.


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