Gerhard Breidenstein, Ein mystisches Verständnis des ‚Reiches Gottes‘

1. Zum Begriff ‚Reich Gottes‘

Dass der griechische Ausdruck ‚basileia tou theou‘ von Luther mit ‚Reich Gottes‘ übersetzt wurde, ist für uns Heutige eine Schwierigkeit. Denn das Wort ‚Reich‘ ist inzwischen sehr belastet, und vor allem: es assoziiert einen Bereich, der eine Grenze hat, ein Drinnen und Draußen für seine Bürger – aber auch für den Herrscher. Die Übersetzung ‚Gottesherrschaft‘ ist dynamischer, aber ‚Gott der Herrscher‘ ist für uns keine selbstverständlich positive Vorstellung mehr. Für ein heutiges Verständnis der Reich-Gottes-Botschaft möchte ich anregen, wenigstens ergänzend und erläuternd vom ‚Kraftfeld Gottes‘ oder einfach von der ‚Energie Gottes‘ zu sprechen. Das wird uns insbesondere für eine mystische Interpretation dieses theologischen Begriffes helfen.

 2. Der exegetische Befund

2.1Schon ein Blick in die Konkordanz zeigt etwas sehr Auffälliges: während die Rede von der Gottesherrschaft in den synoptischen Evangelien ein Hauptthema ist (der Begriff ‚Reich Gottes‘ oder ‚Reich der Himmel‘ taucht dort über 80 mal auf), hat er im übrigen Neuen Testament nur eine Randbedeutung: Paulus verwendet ihn nur neunmal, Johannes benutzt ihn nur an einer Stelle (Joh 3,3 u.5). Dies signalisiert eine drastische Verschiebung des theologischen Interesses im Frühchristentum und der nachfolgenden Theologiegeschichte, der ich hier nicht weiter nachgehen kann.

Jedenfalls besteht unter heutigen Exegeten kein Zweifel, dass die Verkündigung der ‚basilea tou theou‘ (oder bei Mt der ‚basilea toon ouranoon‘) bei Jesus von Nazareth im Zentrum stand. Jesu Botschaft  wird in dem Bericht von seinem ersten Auftreten so zusammengefasst :
„Die Zeit ist erfüllt, und die Gottesherrschaft ist (nahe) gekommen (aeggiken). Kehrt um und glaubt an diese gute Botschaft!“ (Mk 1,15). Und bei Mt: „Kehrt um, denn nahe herbei-gekommen ist das Reich der Himmel!“ (Mt 4,17). (Es gibt philologische Gründe, ‚aeggiken‘ mit ‚ist da‘ zu übersetzen!) Andere Zusammenfassungen von Jesu zentraler Botschaft betonen das Nahegekommen (Mt 10,7; Lk 10,9 u.11) oder einfach „die Gottesherrschaft“ (Lk 9,2 u.60; Apg 1,3; 28, 23 u.31).

2.2  Jesus definierte das Reich Gottes offenbar nicht; vielmehr bemühte er sich, durch zahlreiche Gleichnisse  – ausdrücklich oder implizit – das Wesen der Gottesherrschaft verstehbar zu machen. Für sein Verständnis von dessen Realität ist bezeichnend, dass er dabei alltägliche Ereignisse, Erfahrungen und Bilder gebrauchte. (Vgl. Zen-Koans!) Er wollte so vor allem ihre Wirkungsweise  verdeutlichen: sie befreit von Schuld (Schalksknecht, Verlorener Sohn); sie bedeutet Gemeinschaft auch mit Unwürdigen (Großes Gastmahl); sie richtet sich voraussetzungslos an alle, besonders an die Armen, Kranken, Diskriminierten (Großes Gastmahl, Seligpreisungen, Verlorenes Schaf, Verlorener Groschen); sie stiftet Freude (drei Gleichnisse vom Verlorenen, Verborgener Schatz, Gefundene Perle, Hochzeitsleute, die nicht fasten); sie kehrt alle menschlichen Maßstäbe um (Erste – Letzte, Arbeiter im Weinberg, Ungleiche Söhne, Seligpreisungen und Weherufe); sie bricht die Macht des Bösen (Lk 11, 20-23; 10,28); sie heilt (Lk 11,14ff par); sie holt das Verlorene heim und steht auf Seiten der Schwachen (Mk 10,14 par; Mt 5,3 par); man kann in ihren Wirkungsbereich hineinkommen oder von ihm ausgeschlossen bleiben (Großes Gastmahl, Zehn Jungfrauen, Vom Fischnetz u.ö.).

      ‚Umkehr‘  (nicht wie in Luthers Übersetzung ‚Buße‘!) ist die entscheidende Parole in Verbindung mit Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft. Das griechische Wort ‚metanoeite‘ heißt wörtlich ‚denkt um‘, freier übersetzt ‚wandelt euer Bewusstsein‘. (Darauf komme ich im 4.Abschnitt zurück.)

2.3  Für die allgemeine Diskussion ist von großer Bedeutung, dass Jesus einerseits von der Gegenwärtigkeit  der ‚basileia tou theou‘ sprach (vor allem Lk 4,16-21; Lk 7, 18-23 par; Mt 12, 28 par; Lk 17, 21; Mt 5, 3 u.10; und s.o. zu ‚aeggiken‘!); und andererseits von deren Zukünftigkeit  (s.u.a. Mt 5,19; 7, 21; 8, 11f; Lk 13,28-30; Mk 14,25par). Letztere Stellen kann man nicht einfach als spätere, apokalyptische Eintragungen abtun, denn in den typisch apokalyptischen Texten der Synoptiker (Mk 13, Mt 24, Lk 17 u.21) kommt auffallenderweise der Ausdruck ‚basileia tou theou‘ gerade nicht vor.

       Für meine Einschätzung muss das Dilemma  ausgehalten werden, dass Jesus sowohl von der erfahrbaren Präsenz der Gottesherrschaft sprach als auch von ihrem Ausstehen oder ihrer zukünftigen Ankunft, vom Schon-jetzt und vom Noch-nicht  des Reiches Gottes.

3.Ein häufiger Lösungsversuch

3.1 Zur Lösung dieses Widerspruches werden meist die Wachstumsgleichnisse  herangezogen: die Gleichnisse vom Vierfachen Ackerfeld, vom Senfkorn und vom Sauerteig, von der selbstwachsenden Saat, vom Unkraut unter dem Weizen (in Mk 4 und Mt 13 zusammengestellt, bei Lk verstreut; die beiden zuletzt genannten sind Sondergut des Mk (!) bzw.Mt). In diesen Gleichnissen geht es immer wieder um jenen wunderbaren Prozess, bei dem aus kleinstem, z.T. gefährdetem Anfang eine große Fülle erwächst. Dieser Wachstumsprozess  vom Samen zur Frucht umschließt Gegenwart und Zukunft.

3.2 Von daher kann man ein Verständnis vom Reich Gottes mit neuesten Erkenntnissen der universalen Evolution  in Einklang bringen. Und man kann das Wirken der Gottesherrschaft in der Geschichte der Menschheit  als eine Geschichte auf Vollendung hin glauben – nicht im Sinne platten Fortschrittsdenkens, sondern als ein Ent-wicklungsprozess, der von uns nicht wie von außen zu überschauen, gar zu beurteilen ist. Schöpfung  wird so nicht als einstmals ‚gut‘ und dann ‚gefallen‘ interpretiert, sondern als Gottes Wirken auf eine noch ausstehende Vollendung hin (vgl. z.B. Röm 8, 13-30; Offenb. 21, 1-8).

3.3 So wird das oben genannte Dilemma zwar gelöst, aber ein neues taucht auf: Wie ist dann die Existenz des Bösen  in der Welt zu verstehen? Ist das ein Bereich der Wirklichkeit, wo die Gottesherrschaft noch nicht hingelangt ist? Ist Gottes Energie wie der Sauerteig, der eben einige Zeit braucht, um alles Mehl zu durchdringen? Gibt es außerhalb des Reiches Gottes – oder mitten in ihm (Unkraut im Weizen)! – ein ‚Reich des Bösen‘? Dann ist das zeitliche Dilemma zu einem gleichsam räumlichen geworden. Aber auch die alte Theodizee-Frage taucht dann wieder auf: Wie kann Gott all das Unglück zulassen?!

4.Ein mystisches Verständnis des Reiches Gottes

4.1  Mystisches Glauben und Reden gab es höchst erstaunlicherweise in allen großen Religionen (z.B. Yoga, Zen, Kabbala, christliche Mystik, Sufismus), zu allen Zeiten (von der Bhagavadgita bis in die Gegenwart) und mit großen Gemeinsamkeiten. Deshalb ist es zulässig, im Folgenden von ‚der Mystik‘ zu sprechen. Zugleich muss ich an das Paradox erinnern, dass mystische Erfahrung nicht in Worte zu fassen ist, aber doch bezeugt sein will. Beides muss besonders gelten, wenn wir vom ‚Reich Gottes‘ zu sprechen versuchen.

Mystik  ist u.a. dadurch gekennzeichnet, dass es für sie nur Eine Wirklichkeit  gibt – also kein Diesseits und Jenseits, keine gegenwärtige und zukünftige Wirklichkeit, schon gar nicht ein Reich des Göttlichen und ein Reich des Bösen. Deshalb ist auch das Verständnis Gottes  (oder des Göttlichen) für MystikerInnen ein allumfassendes: Gott ist in allem – von heiligen Gestalten wie Buddha oder Jesus von Nazareth bis zum schlimmsten Verbrecher, und ebenso in allen Tieren, Pflanzen und sogar Steinen; jedes Atom und die fernsten Galaxien sind seine Verkörperungen.

Das mystische Verständnis des Menschen  lässt sich am besten am Bild von der Welle und dem Ozean erläutern: jede Welle ist einmalig individuell und zugleich unabtrennbarer Teil des Ozeans. Wenn ein Mensch sich getrennt von allen anderen Menschen und zu Gott im Gegenüber versteht, so liegt das nur an seiner oder ihrer verengten Wahrnehmung: die Welle bleibt mit ihrer Wahrnehmung der Wirklichkeit in ihrer kleinen Spitze gefangen. Je weiter sich ihr Bewusstsein zum Ozean hin öffnet, umso unbedeutender werden die Wasserspritzer des Ego, und umso stärker wird die Wahrnehmung des Ganzen der Wirklichkeit. Also nicht die Wirklichkeit ist dualistisch, sondern meine Wahrnehmung von ihr. ‚Ich‘ und ‚Du‘ werden im Gottesverhältnis zwar nicht aufgehoben, aber in einander verschränkt („Ich in Dir, Du in mir“ lautet eine häufige Gebetsformel in der Mystik).

4.2 Für ein mystisches Verständnis der Gottesherrschaft  heißt das: sie istallumfassend, allgegenwärtig und überall ; dies bedeutet die absolute Ent-grenzung des ‚Reiches Gottes‘.  Und sie ist immer schon da ; dies ist die Ent-zeitlichung der Wirklichkeit Gottes. Denn Gottes Herrschaft ist identisch mit seinem Sein und deshalb weder nur ‚nahe herbeigekommen‘ noch ‚schon angekommen‘, noch ‚zukünftig kommend‘, sondern ewig d.h. jenseits von Raum und Zeit. Was wird dabei aus dem ‚Noch-nicht‘ in Jesu Verkündigung? Es ist das Noch-nicht der Erkenntnis.  Meine Wahrnehmung der Einen und ganzen Wirklichkeit ist es, die noch aussteht. Zukünftig ist das Aufleuchten der allgegenwärtigen Wirklichkeit in meinem Bewusstsein. Ebenso ist das Drinnen und Draußen in Jesu Gleichnissen zu verstehen: ich komme ‚hinein‘ oder bleibe ‚draußen‘ je nach dem Stand meiner Erfahrung der Wahrheit. Das gilt natürlich erst recht für das Bewusstsein der ganzen Menschheit.

So wird das am Ende des 2. Abschnittes genannte exegetische Dilemma bei der Verkündigung Jesu überwunden. Freilich sollten wir nun ‚basilea tou theou‘ nicht mehr gewohnheitsmäßig nur mit ‚Reich Gottes‘ übersetzen, sondern erläuternd auch mit ‚Wirklichkeit Gottes‘, ‚Energiefeld Gottes‘ oder ähnlich mystischen Wendungen.

4.3 ‚Metanoeite‘  heißt dann nicht Umkehr im Sinne von: „Dreht euch auf dem Absatz um und geht in eine neue Richtung“, sondern „Öffnet euer Bewusstsein so weit, dass es verwandelt werden kann in die Wahrnehmung des Ozeans, des Ganzen, des göttlichen Urgrundes, des Reiches Gottes.“ Alle MystikerInnen betonen, dass man diesen Bewusstseinswandel nicht selbst vollziehen kann, dass er immer und nur ein Geschenk der Gnade ist. Man kann am besten in diese Erkenntnis ‚hineinkommen‘, wenn man unbefangen ist wie die Kinder (Mk 10,15). Wir Erwachsenen müssen uns – meist sehr mühsam – darauf vorbereiten und bereit halten wie die fünf ‚klugen Jungfrauen‘ , bereit für den Empfang des Bräutigams. Der Zeitpunkt von dessen Ankunft, d.h. der offenbarenden Erfahrung des ‚Reiches Gottes‘, ist so ungewiss wie die des Diebes in der Nacht und kann so plötzlich da sein wie ein Blitz vom Himmel. Aber das Auftauchen der Erfahrung der Wirklichkeit Gottes kann auch so langsam und allmählich sein wie das Wachsen des Senfkorns, des Weizens mitten im Unkraut oder der selbstwachsenden Saat. (Vgl. dazu den alten Streit zwischen verschiedenen Zen-Schulen um die plötzliche Erleuchtung  oder das allmähliche Erwachen.)

4.4 Für unser Leben, unser Glauben und Handeln in dieser Welt , die so verwirrend zwiespältig erscheint, heißt das: es geht nicht um das Bauen des Reiches Gottes, sondern um das Schauen des Reiches Gottes. Freilich wäre der Bewusstseinswandel hin zur Wahrnehmung der Einen, göttlichen Wirklichkeit kein solcher, wenn er nicht radikale Auswirkungen auf unser Handeln hätte. Handeln im Bewusstsein der Allgegenwart der Gottesherrschaft ist Handeln  mit der Qualität und der Kraft Gottes. Und dessen Wahres Sein – soweit wir das überhaupt in Sprache fassen können – ist Liebe und will deshalb Gerechtigkeit, Frieden und Vollendung der Schöpfung.

4.5 Was wird bei solchem Verständnis des ‚Reiches Gottes‘ aus der Erfahrung des Bösen?  ‚Dem Bösen‘ wird eine eigene ontologische, gar widergöttliche Qualität abgesprochen. Dass in unserer Welt so eindeutig entsetzlich Böses geschieht, kann dann verstanden werden als Folge von verblendetem, nicht-erleuchtetem Bewusstsein. So lange Menschen sich als isolierte und insofern gefährdete Individuen verstehen, werden sie (fast unvermeidlich) handeln, als müssten sie ihr Ego behaupten, verteidigen, ja durchsetzen. Solcher Ego-Wahn kann durchaus auch kulturell verstärkt und kollektiver Art sein. Ließe sich nicht alle Bosheit – bis hin zu den systematischen Großverbrechen der Neuzeit – aus solcher ‚Verblendung‘ verstehen? Dann wäre ‚das Böse‘ im Wesentlichen als Krankheit zu deuten, und es ginge zwar noch um Mit-Verantwortung für die eigene Heilung, aber es wäre nicht mehr von Schuld zu sprechen. Umgekehrt könnte man sagen: wenn ein Mensch sein Eins-sein-mit-Allem und die Allgegenwart des göttlichen Energiefeldes erfahren hat, dann kann, ja muss er oder sie – ganz selbst-verständlich – der eigenen wahren Natur gemäß handeln: nämlich als Liebende(r) und im Dienste der Entfaltung allen Seins.

4.6 Solches Handeln wird – so glaube ich – die Erscheinung unserer Welt verwandeln, wird sie immer weiter humanisieren, ja immer gottähnlicher werden lassen, so dass mehr und mehr Menschen die Identität unserer Welt mit der Wirklichkeit Gottes erkennen und ebenfalls entsprechend handeln können. Das wird ‚am Ende der Zeit‘ dazu führen, dass „Gott in ihrer Mitte wohnen wird, und sie werden sein Volk sein, und Gott wird bei ihnen sein“ (Offenb. 21,3). Dann werden alle Menschen und alle Lebewesen ihrem wahren Wesen als Kinder Gottes entsprechen. Das wird dann „ein neuer Himmel und eine neue Erde sein“ – jedenfalls aus unserer heutigen Sicht, in Wahrheit aber dieselbe Wirklichkeit, wie sie war, ist und sein wird „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ – dann vollständig offenbar.

Mit einem solchen Verständnis des ‚Reiches Gottes‘ können wir beten: „Vater unser: Dein Reich komme in unser Bewusstsein,…..denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen“.


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