Hubertus Halbfas, Hofgeismar 2013/2014

Umrisse einer erneuerten Kirche

Fasst man die Ausführungen von Hubertus Halbfas auf den Jahrestagungen 2013 und 2014 zusammen, so entsteht das Bild einer erneuerten, ja einer ganz anderen Kirche. Dabei werden drei wesentliche Elemente sichtbar:

Rückbesinnung auf die Jesusbotschaft: Was Jesus interessierte, war eine Lebensordnung, die er als „Herrschaft Gottes“ oder „Reich Gottes“ verstand: keine jenseitige Welt, sondern eine Lebensweise in der Welt der Menschen. Er schrieb in den Alltag dessen göttliche Bestimmung ein. Das machte er konkret durch eine provokante offene Tischgemeinschaft, die Symbol und Realisation seiner Lehre war. In Gleichnissen und mit eigenem Verhalten deutete er seine Mahlgemeinschaften, die in bunter Reihe Männer und Frauen, Arme und Reiche, Pharisäer zwischen Zöllnern und Dirnen versammelten – ein Programm nicht-diskriminierender Gesellschaft. Irritierend und provokativ für alle, welche die eigene Identität nur in den Augen von ihresgleichen finden. Darum ist das Evangelium Jesu im eigentlichen Sinne keine Lehre sondern ein Lebensmodus, der seine Überzeugungskraft in sich selbst besitzt. Diese Wahrheit muss nicht geglaubt, nicht bewiesen und nicht verteidigt werden.

Jesus nennt als „Summe“ seiner Lehre wie der gesamten biblischen Überlieferung die „Goldene Regel“: „Alles nun, was ihr wollt, dass es euch die Menschen tun, das sollt auch ihr ihnen tun; denn darin besteht das Gesetz und die Propheten“ (Mt 7,12). Es ist eine unerhörte Raffung, die alle Menschen als gleich nimmt und einem natürlichen Sittengesetz unterstellt, so dass das rechte Leben keinem Buch, auch nicht einer „Heiligen Schrift“ entnommen werden muss, weil bereits Vernunft und Natur den Weg dazu weisen. Es geht darin nicht um Juden, Griechen oder Auserwählte, sondern um ein egalitäres Gleichstellungsprogramm, welches auch heute noch jedem Menschen vermittelbar und einsichtig ist – ganz gleich ob Christ, Jude, Muslim oder Atheist.

Relativierung paulinischer Theologie: In der frühen Jesusbewegung beginnt bereits die Verkirchlichung. Nun nehmen nur noch Jesus-Leute – nicht mehr jedermann – am Mahl teil, das sich von der offenen Tischgemeinschaft zur kultischen Handlung entwickelt und Elemente alter Opfergedanken aufgreift. Paulus erklärt: Durch Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferweckten, kommt alles Heil, das den Menschen durch den Sühnetod Jesu erschlossen wurde. Das aber ist ein anderer Inhalt als ihn Jesus vertrat. Im Gleichnis vom „verlorenen Sohn“ oder „barmherzigen Vater“ (Lk 15,11-32) spricht er mit keinem Wort von einer notwendigen Sühne. Der durch Jesu Lehre und Leben erschlossene Gott hat nichts mit „Opfertod“ und Satisfaktion zu tun und weiß darum nichts von Sühne und Begnadigung. Im Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner genügt die Bitte: „Gott sei mir Sünder gnädig“, um angenommen zu sein. Kein Beichtstuhl, keine Absolution, keine Gnadenvermittlung durch Sakramente und Kirche, nichts was eine Priesterschaft exklusiv zu vermitteln hätte.

Bei Paulus wird aus einer Lebensweise eine Glaubenslehre, die  „Glaubensgehorsam“ verlangt, ansonsten Vergeltung und ewiges Verderben androht. Es ist der Wechsel von der (nicht bestreitbaren) Wahrheit eines gelebten Lebens zum (stets bestreitbaren) Anspruch eines theologischen Lehrsystems. Das Evangelium Jesu und das Evangelium des Paulus sind nicht vereinbar. Die heutige Kirche hat aus der paulinischen Theologie ihre Lehre entwickelt. Der historische Jesus blieb dahinter zurück und wurde sogar vergessen.

Neue kirchliche Strukturen: Das Programm Jesu weist über Kirche hinaus. Es ist eher kirchensprengend, weil es in der menschlichen Gesellschaft gelebt werden will. Daran teil zu haben, lässt von der Kirche erwarten, dem im Apostolischen Glaubensbekenntnis übergangenen historischen Jesus in der eigenen Struktur zentral wieder zu entdecken. Das verlangt eine Kirche von unten, Gemeindeformen, die aus ihren eigenen Prozessen heraus gestaltet werden.

Ein lebendiges Beispiel dafür findet sich im französischen Bistum Poitiers. Dort sind innerhalb von zwölf Jahren mehr als dreihundert örtliche Gemeinden neu entstanden, die von je fünf verantwortlichen Laien geführt werden. Das Modell Pfarrgemeinde wird hier aufgegeben, d.h. die Gemeinde definiert sich nicht mehr vom Pfarrer her. In zwölf Jahren pastoraler Arbeit sind im Erzbistum Poitiers mehr als dreihundert örtliche Gemeinden neu entstanden. „Das Empfinden von Schwäche und Schwund, das bis dahin geherrscht hat, nimmt ab. Spürbar lebt die Hoffnung auf. Die Menschen wandeln sich durch die Ausübung ihrer Aufgaben.“

Die neuen Gemeinden werden nicht gebildet, um fehlende Priester zu ersetzen, sondern um das Evangelium zu leben und viele Fähigkeiten in die Verantwortung einzubinden. Was diesem Kirchenmodell im Wege steht, ist die alte Furcht vor Demokratie in der Kirche. „Sagen wir es in aller Klarheit, hier geht es um Macht“, sagt Bischof Rouet. Diese Position will er dem Pfarrer nicht länger einräumen. Er wertet den heutigen Pfarrermangel als Chance, der Kirche eine neue Zukunft zu erschließen. Das Empfinden von Schwäche und Schwund, das bis dahin geherrscht hat, hat abgenommen. Spürbar lebte die Hoffnung auf. Die Menschen wandelten sich durch die Ausübung ihrer Aufgaben.

Das Evangelium Jesu aber wird längst über die Kirchen hinaus gelebt. Es wirkte im Programm der französischen Revolution »Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit« oder in der Erklärung der Menschenrechte. Es setzt sich fort in der Sozialgesetzgebung der europäischen Staaten; im Internationalen Roten Kreuz; in Organisationen wie Amnesty International, Attac, Ärzte ohne Grenzen als auch in Zielen von Greenpeace oder dem World Wide Fund For Nature (WWF).

Das Evangelium zielt auf weltliche Werte: auf Menschenrechte, Ehrfurcht vor der Natur und dem Leben, soziale Gerechtigkeit, die Würde der Frau, Wahrhaftigkeit. Auch wenn die christlichen Kirchen weitgehend mit sich selbst beschäftigt sind, die von den Propheten Israels und dem Reich-Gottes-Programm Jesu angestoßene Bewegung bleibt Salz der Erde und Licht der Welt. Dieser Anstoß geht von prophetischen und dienenden Menschen aus. Ihr Handeln und ihr Wort künden Gott in der Wirklichkeit der Welt.

Hubertus Halbfas


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