Zum 7. Dezember 1970

Am 7. Dezember 1970 legte der damalige deutsche Bundeskanzler Willy Brandt einen Kranz am Ehrenmal am alten jüdischen Getto von Warschau in Polen nieder. Nach der Kranzniederlegung fiel er auf die Knie. „Das war nicht geplant„, wird er erklären. „Aber am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“ Die Geste verursachte weltweit Aufsehen.

„Dann kniet er, der das nicht nötig hat, für alle, die es nötig haben, aber nicht knien – weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können“, schrieb ein Augenzeuge. „Keine politische Geste hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen so großen Einfluss auf die europäische Geschichte gehabt wie der Kniefall Willy Brandts in Warschau. Mit einer Mischung aus Kalkül und Spontaneität setzte Brandt ein Zeichen, das eine Wende in der Politik des Kalten Kriegs einleitete. Was auf dem Verhandlungsweg zu scheitern drohte, kam durch Brandts Demutsgeste vor dem Ehrenmal für die Opfer des Warschauer Ghettos in Bewegung und ermöglichte 20 Jahre später die deutsche Wiedervereinigung.“ (Harry Nutt in: Frankfurter Rundschau vom 1.12.2010)

Der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker würdigte den Kniefall in seinem Nachruf auf den 1992 verstorbenen Brandt mit den Worten: „Ein tiefes Menschengefühl wurde zum Ausdruck eines Regierenden. Niemand hatte es erwartet. Keiner hat es vergessen. Es hat die Dinge verändert. Es hat den Völkern einen neuen Weg geöffnet.“ –

In Polen sind die Erinnerungen an Willy Brandts Kniefall bis heute gemischt. Galt die stumme Bitte des Bundeskanzlers um Vergebung allein den ermordeten Juden und ihren Angehörigen oder auch den nichtjüdischen Polen? Brandt selbst schrieb später: „Nirgends haben die Menschen so gelitten wie in Polen. Die maschinelle Vernichtung der Judenheit stellte aber eine Steigerung der Mordlust dar.“ Es ist diese Art der Differenzierung, die viele nichtjüdische Polen nur schwer akzeptieren können. Sie sehen darin eine moralisch unhaltbare Unterteilung in Opfer erster und zweiter Klasse. Fakt ist: Rund sechs Millionen Polen starben im Weltkrieg, davon etwa drei Millionen Juden.


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