Zum 24. Dezember 1914

Die Front zwischen dem flandrischen Ypern und dem französischen Richebourg war in der Adventszeit 1914 zur Hölle auf Erden geworden. In den Schützengräben starben in den ersten Monaten mehr als eine halbe Million Soldaten im Kugelhagel der Maschinengewehre. Am 24. Dezember aber kehrte urplötzlich Ruhe an der Frontlinie ein. Irgendwo stimmte eine kleine Gruppe deutscher Soldaten das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ an. Die zweite Strophe singt schon die ganze Kompanie mit. „Plötzlich“, trägt ein westfälischer Kriegsfreiwilliger in sein Tagebuch ein, „sprengte ein Ruf: ‚Fröhliche Weihnachten!‘ den Bann des andächtigen Schweigens. Von dem achtzig bis hundert Meter gegenüberliegenden englischen Graben hallte es zurück: ‚Merry Christmas!‘“ So geschehen am 24. Dezember 1914. Vor allem in Flandern, aber auch an vielen anderen Orten schwiegen an diesem Abend die Waffen. Und nicht nur das: Überall kam es zu spontanen Begegnungen und Verbrüderungen Hunderter, ja Tausender von Soldaten, die einander vorher noch erbittert bekämpft hatten. Ein bewegendes Urteil lieferte der Überlebende Murdoch M. Wood 1930 vor dem britischen Parlament, als er sagte, dass die Soldaten wohl niemals wieder zu den Waffen gegriffen hätten, wäre es nach ihnen gegangen.

„Dennoch gab es in diesen verzweifelten Jahren, als in ganz Europa die Lichter ausgingen [bis Weihnachten 1914 waren bereits eine Million Soldaten gefallen], einen kleinen, aber funkelnden Lichtblick. Im Dezember 1914 öffnete sich kurz der Himmel, und Tausende erhaschten einen Blick in eine andere Welt. Für einen kurzen Moment wurde ihnen bewusst, dasss sie zueinandergehören, als Menschen und als Brüder.“ (Rutger Bregmann, Im Gunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit. Aus dem Niederländischen von Ulrich Faure und Gerd Busse, Hamburg 2022, 5. Auflage, S. 398f.)

Diese zutiefst menschliche Geste sollte sich danach nie mehr wiederholen, nicht im Ersten und auch nicht im Zweiten Weltkrieg.

Am 11. November 2008 wird im französischen Frelinghien das erste Denkmal zum Weihnachtsfrieden 1914 eingeweiht.

 

Literatur:

  • Michael Jürgs, Der kleine Frieden im großen Krieg. Westfront 1914: Als Deutsche, Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feierten, Bertelsmann Verlag, München 2003, 3. Auflage

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