Zum 24. August 1968

 

Im Rückgriff auf das Zweite Vatikanische Konzil benannten die katholischen Bischöfe einen neuen Standort der Kirche: an der Seite der Armen; Befreiung, neue Evangelisierung und Engagement für Entwicklung traten hinzu. Auch wenn damals die griffige Formulierung von der „Option für die Armen“ noch nicht wörtlich in den Schlussdokumenten auftauchte: Die Versammlung der 146 Bischöfe in Kolumbien im August und September 1968 gilt als Geburtsstunde der Theologie der Befreiung, die sich bald zum Ärgernis für den Vatikan und für das Establishment in Lateinamerika auswachsen sollte. Die in Medellín gefassten Beschlüsse gelten als das wichtigste Dokument der römisch-katholischen Kirche weltweit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. –

 

Der folgende Text ist dem Rundbrief 48 des Instituts für Theologie und Politik (ITP) vom April 2018 entnommen. Wir danken dem ITP herzlich für die Genehmigung, ihn auf unsere Website zu stellen.

Medellín 1968 – Ein „Wahrheits-Ereignis“ mit Folgen bis heute

Von Norbert Arntz

Die wenigsten in Deutschland werden präsent haben, dass 1968 im kolumbianischen Medellín ein bedenkenswertes Ereignis stattfand: die zweite gesamtlateinamerikanische Bischofsversammlung.

Das Jahr 2018 ist für viele Gedenktage gut: 400 Jahre seit Beginn des 30-jährigen (Religions-)Krieges; 100 Jahre seit Ende des I. Weltkrieges; 50 Jahre seit der „Studenten“-Revolution, 50 Jahre seit Medellín. Was auf den ersten Blick als ein „bloß“ kontinentales, als ein „bloß“ kirchliches Ereignis erscheinen mag, offenbart sich bei näherem Hinsehen als ein Ereignis mit wahrhaft weltbewegendem Charakter.

Eine Bischofsversammlung wird zum Regionalkonzil

Das Regionalkonzil stellt zunächst die Kirchengeschichte vom Kopf auf die Füße: Nicht mehr die Kirche selbst, schon gar nicht die Hierarchie steht im Blickpunkt des Interesses der Versammelten: Es sind die Opfer der herrschenden Verhältnisse: „das Elend, das ungeheuer viele Menschen ausgrenzt. Dieses unermessliche Elend ist eine Ungerechtigkeit, die zum Himmel schreit.“ – „Ein stummer Schrei bricht aus Millionen Menschen hervor. Sie verlangen von ihren Hirten eine Befreiung, die ihnen niemand anders gewährt“.

Die Verelendeten brechen in die Kirche ein; mit ihnen bricht der „Gott der Armen“ in die Kirche ein. Die Bischofsversammlung hört in diesem Schrei den Protestschrei des unterdrückten jüdischen Volkes in Ägypten. Wie Mose hören die Bischöfe darin zugleich die Stimme des Gottes, der das Volk nicht in diesem Elend lassen will. Gott selbst geht aus sich heraus und steigt herab, um das Volk zu befreien. Die Bischöfe fühlen sich in die Pflicht genommen: Die Versammlung „darf dem ungeheuren gesellschaftlichen Unrecht, das es in Lateinamerika gibt, nicht gleichgültig gegenüber stehen“.

Alles ändert sich.

Zunächst das Verständnis der Kirche: Sie wird „Kirche der Armen“. Diese „verurteilt das Unrecht, die Güter dieser Welt nicht zur Verfügung zu haben, und die Sünde, die dieses Unrecht hervorbringt“ und sie wird selbst eine „arme Kirche“: „In Lateinamerika soll immer leuchtender das Gesicht einer wirklich armen, missionarischen und österlichen Kirche erkennbar werden, die sich aller irdischen Macht entledigt, sich jedoch mutig engagiert für die Befreiung des ganzen Menschen und aller Menschen“.

Damit ändert sich auch die gesellschaftliche Rolle der Kirche. Die Einsicht darin hatte beim II. Vatikanischen Konzil 1962 begonnen, war aber erst im Katakombenpakt 1965 zur persönlichen Verpflichtung geworden. Jetzt wird sie zur Selbstverpflichtung einer ganzen kirchlichen Region: Die Kirche erfährt die Leiden der Unterdrückten als ihr eigenes Leiden und verlässt den für die koloniale Kirche üblichen Platz an der Seite der Mächtigen.

Damit ändert sich die Arbeitsweise der Kirche – ihre Pastoral. Viele fühlen sich von diesem Befreiungsimpuls angesteckt, entdecken die Bibel der Armen, deren widerständige und kreative Kräfte, deren Hoffnungskraft.

Was die einen begeistert, entgeistert die anderen. Sie wittern – nicht zu Unrecht – eine Gefahr: Wenn im Himmel eine Revolution stattfindet, lässt sie auf der Erde nicht lange auf sich warten.

Schon bald reagieren die Machthaber. Noch 1968 schreibt Nixons Sonderbeauftragter für Lateinamerika einen Bericht über die Kirche von Medellín ans Weiße Haus: „Die Kirche von Medellín ist keine Verbündete mehr! Schlimmer noch: Sie ist unserer Gegnerin. Wir müssen sie bekämpfen!“

Oligarchen bewegen Kapital, Politiker befehligen Geheimdienste und Armeen zum Einsatz, Militärs trainieren Soldaten. Propagandisten schießen aus allen Medien: „Die Kirche wird kommunistisch unterwandert.“ Todesschwadronen sollen Furcht verbreiten und die Widerstandskraft brechen. Eine Verfolgung bricht über die Kirche ein, die Lateinamerika bis dahin nicht gekannt hat.

Die Verfolgung offenbart, was diese Kirche in Wahrheit antreibt: das Schicksal der Gekreuzigten und ihre aus dem Evangelium stammende Hoffnung auf Auferstehung. Was den Armen täglich widerfährt – Geringschätzung, Verachtung, Misshandlung und Tod – wird nun zum  Schicksal der Kirche. Tausende werden ermordet, Frauen und Männer aus den Gemeinden, ebenso wie Bischöfe, Priester, Ordensleute.

Schlimmer als die politisch militärisch motivierte Verfolgung wirkt sich jedoch die innerkirchliche Verfolgung aus. Die römische Kurie im Verein mit ihren lokalen Verbündeten greift den Kommunismusvorwurf auf, streut Verdächtigung und Diffamierung gegen Bischöfe und Priester, fördert Bewegungen, die gegen die „Kirche der Armen“ antreten. Die Kirche der kleinen Leute, die aus Medellín hervorgegangen war, die Kirche der Basisgemeinden erleidet eine doppelte Verfolgung: jene durch die Unterdrücker und häufig jene durch die eigenen Kirchenleitung.

Aber in der Nachfolge des armen Jesus von Nazaret bleibt sie an der Seite der Armen. Wieder finden sich auch in ihr „zwölf Apostel“, darunter der brasilianische Anreger Helder Camara, der argentinische „kleine Bruder Jesu“ Enrique Angelelli, der mexikanische „politische Kopf“ Sergio Mendez und nicht zuletzt der „bekehrte“ Oscar Romero.

In dieser Kirche weht der Heilige Geist, der Geist Jesu und der Geist der Armen. Von diesem Geist werden Gottesdienste und Gebet, Lieder und Musik, bildende Kunst und Dichtung inspiriert. In ihrer Mitte steht der Jesus des Evangeliums: „Ich bin gesandt, den Armen Gute Nachricht zu bringen und den Gefangenen die Befreiung!“ (Lk 4,16). Aber in ihrer Mitte steht auch der bis zum letzten Atemzug Widerstand leistende auferweckte Gekreuzigte: „Er, den ihr ans Kreuz geschlagen und umgebracht habt, wurde von Gott befreit und auferweckt.“ (vgl. Apg 2,23)

Und was sind nun die heutigen Folgen dieses „Wahrheits-Ereignisses“? In nahezu unerlaubter Kürze will ich zusammenfassend andeuten, welche Folgen ich sehe:

  • Ohne Medellín und die daraus hervorgegangene Kirche wäre das II. Vatikanische Konzil längst durch Kirchenrecht (CIC 1983) und Weltkatechismus (1992) auf Eis gelegt worden.
  • Ohne Medellín und die Kirche der Armen wäre die Wiederbelebung des Konzils heute durch Papst Franziskus mit seiner Vorstellung von einer armen Kirche an der Seite der Armen nicht in Gang gekommen.
  • Ohne Medellín gäbe es auch nicht die Wiederbelebung der synodalen Tradition, in der kirchliche Entscheidungen dezentralisiert werden und Bischofskonferenzen wie Regionalkirchen eine wichtigere Rolle spielen (vgl. das Projekt Amazonas-Synode).
  • Ohne Medellín hätte die Kirche nicht – wie im heutigen „franziskanischen“ Pontifikat – zu einer neuen „globalisierungskritischen“ Rolle im Verbund mit anderen Konfessionen und Religionen gefunden.

Aus der Er-Innerung einer verdrängten Vergangenheit keimt Neues auf.


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