Zum 15. Februar 1966

„Torres ging es darum, das Volk in Gerechtigkeit zu einen. »Amor eficaz«: wirksame Liebe zu und mit den Armen zu üben – das sah er als seine Berufung an. 1929 in Bogotá geboren, wuchs Camilo Torres in einer liberal und antiklerikal eingestellten Oberschichtfamilie auf. Französische Dominikaner erschlossen ihm den christlichen Glauben und weckten den Wunsch, Priester zu werden. Nach der Weihe 1954 studierte er in Löwen (Belgien) Soziologie, was ihm half, die metaphysische Theologie, wie sie damals in den Seminaren gelehrt wurde, zu »erden« und die strukturellen Ursachen von Not und Armut zu erkennen. So wurde ihm die politische Dimension der Nächstenliebe bewusst.Revolutionär aus LiebeNach seiner Rückkehr 1958 wurde er Studentenpfarrer an der Nationaluniversität in Bogotá. Gleichzeitig lehrte er an der von ihm zusammen mit Orlando Fals Borda gegründeten Fakultät für Soziologie. Ein Konflikt an der Universität führte dazu, dass ihm eine andere Aufgabe übertragen wurde, die ihn direkt mit der elenden Situation der Landbevölkerung konfrontierte. Sein Einsatz für eine Agrarreform brachte ihm von der wirtschaftlichen und politischen Oligarchie sowie der kirchlichen Hierarchie den Ruf eines Aufwieglers ein. Die erfolgreiche Revolution in Kuba hatte das Establishment das Fürchten um ihre Besitzstände gelehrt. Verbittert merkte Torres, dass sich die überfällige Reform der kolumbianischen Gesellschaft durch Appelle an die Verantwortlichen nicht bewerkstelligen lassen würde, und radikalisierte sich zunehmend. Seine immer schärfere Kritik an der überkommenen Form des Christ- und Kircheseins führte dazu, dass er sein Priesteramt niederlegte. Mit der Bildung der Partei »Einheitsfront des kolumbianischen Volkes« (Frente Unido) 1965 hoffte er, auf legale Weise der Bevölkerungsmehrheit zur Macht zu verhelfen. Als dieses Projekt nach anfänglicher überwältigender Zustimmung aufgrund interner Auseinandersetzungen scheiterte, schloss sich Torres im Herbst 1965 der christlich und marxistisch geprägten Nationalen Befreiungsarmee (ELN) an. Am 15. Februar 1966 wurde er in einem Gefecht mit Regierungstruppen getötet.“ (Aus: Norbert Mette, Camilos Erbe, in: Publik-Forum Nr. 3 vom 12.2.2016)

Seine Motive, sich dem revolutionären Kampf anzuschließen, hat Torres 1965 unter anderem in einem „Aufruf an die Christen“ dargelegt. Diese Botschaft ist das Glaubensbekenntnis und das Vermächtnis des Camilo Torres. Darin heißt es:

„Das Wichtigste am Katholizismus ist die Nächstenliebe. ‚Wer seinen Nächsten liebt, erfüllt das Gesetz‘ (Römer 13,8). Soll die Liebe wahrhaftig sein, muss sie wirksame Wege suchen; wenn Spenden und Almosen, die wenigen schulgeldfreien Armenschulen und sozialen Wohnungsbaupläne, wenn also das, was wir christliche Wohltätigkeit nennen, nicht erreicht, dass  die Hungrigen satt, die Nackten bekleidet, die Unwissenden wissend werden, dann müssen wir wirksamere Mittel suchen, um das Wohl der Mehrheit zu sichern. Diese Maßnahmen werden nicht von der privilegierten Minderheit an der Macht zu erwarten sein, weil sie dann verpflichtet wäre, ihre Privilegien aufzugeben. (…) Darum ist es unumgänglich, der privilegierten Minderheit die Macht zu entreißen und sie der Mehrheit der Armen zu übertragen.
Dies schnell zu verwirklichen, ist das Wesentliche einer Revolution. Die Revolution kann friedlich sein, wenn die wenigen Mächtigen keinen bewaffneten Widerstand leisten. Revolution heißt: eine Regierung einzusetzen, die den Hungernden zu essen gibt, die Nackten kleidet und die Unwissenden unterrichtet, kurz, Liebe übt, einer nicht nur gelegentlichen und flüchtigen Liebe, einer nicht nur auf wenige beschränkten Liebe, sondern einer Liebe für die Mehrheit unserer Nächsten.
Aus diesem Grunde ist die Revolution dem Christen nicht nur gestattet, sondern sie ist seine Pflicht, wenn sie die einzige wirksame und hinreichende Möglichkeit ist, die Liebe zu allen durchzusetzen.
Es ist wahr, dass ‚alle Macht von Gott kommt‘ (Römer 13,1), aber der heilige Thomas sagt, dass in der konkreten Geschichte das Volk bestimmt, wer die Macht ausüben soll. Wenn eine Autorität gegen das Volk gerichtet ist, so ist sie ungesetzlich und wird Tyrannei genannt. Wir Christen können und müssen gegen die Tyrannei kämpfen. Unsere gegenwärtige Regierung ist tyrannisch, weil sie sich nur auf 20 Prozent der Wähler stützt und ihre Entscheidungen von der privilegierten Minderheit bestimmt werden.
Die zeitlichen Schwächen der Kirche sollen uns nicht empören. Die Kirche ist menschlich; wichtig aber ist zu glauben, dass sie auch göttlich ist. Und immer, wenn wir Christen unsere Verpflichtung der Nächstenliebe erfüllen, stärken wir auch die Kirche.
Ich habe auf die Pflichten und Vorrechte des Klerus verzichtet, aber ich habe nicht aufgehört, Priester zu sein. Ich glaube, dass ich mich aus Liebe für die Revolution entschieden habe.
Ich habe aufgehört, die Messe zu feiern, um diese Nächstenliebe besser im Bereich der Wirtschaft und Gesellschaft verwirklichen zu können. Ich glaube, dass ich auf diese Weise dem Gebot Christi folge: ‚Wenn du opfernd zum Altar kommst und dich dort erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass dein Opfer am Altar liegen und gehe und versöhne dich erst mit deinem Bruder und dann komm zurück und bringe dein Opfer.‘
Wenn mein Nächster nichts mehr gegen mich hat, wenn die Revolution verwirklicht wurde, will ich wieder die Messe feiern, falls es Gott erlaubt (…).“

Literatur:

  • Renate Wind, Bis zur letzten Konsequenz. Die Lebensgeschichte des Camilo Torres, Beltz Verlag, Weinheim und Basel 1994

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