Schneeschmelze

„Anfangs taute der Schnee von innen, still und verborgen. Als die Hälfte der gigantischen Arbeit getan war, wurde es unmöglich, sie länger zu verbergen. Das Wunder drang nach außen. Unter der eingesunkenen Schneedecke rieselte das Wasser hervor und erhob seine Stimme. Das undurchdringliche Waldesdickicht zuckte zusammen. Alles in ihm erwachte.
Das Wasser hatte seine Fesseln abgeworfen. Es stürzte die Hänge hinunter, staute sich, floss in die Weite. Bald erfüllte es das Dickicht mit Rauschen, Rauch und Dampf. Durch den Wald schlängelten sich wahre Ströme, vom Schnee gebremst und in ihrer Bewegung gehemmt, flossen zischend über ebene Stellen, dann wieder abwärts, zersprühten zu Wasserstaub. Die Erde konnte die Nässe nicht mehr aufnehmen. Das Wasser, das aus schwindelnden Höhen, beinahe aus den Wolken, herunterkam, wurde vom Wurzelwerk der jahrhundertealten Tannen aufgesaugt, an deren Fuß sich trocknender weißbrauner Schaum ballte. Wie Bierschaum auf den Lippen von Trinkern.
Der Frühling stieg dem Himmel zu Kopf wie ein Rausch…“

Aus: Boris Pasternak, Doktor Schiwago (1957). Ins Deutsche übersetzt von Thomas Reschke


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