Kinder des Weltalls

„Noch bis vor wenigen Jahrhunderten verstand der Mensch sich und die Erde als in den Kosmos eingeordnet. Zwar unterschied auch der mittelalterliche Mensch zischen dem ‚unter dem Mond‘ gelegenen irdischen Reich und den sich über dieser sublunaren Welt der sterblichen Wesen und vergänglichen Dinge erhebenden himmlischen Sphären der Fixsterne in ihrer ewigen Unveränderlichkeit. Aber er zweifelte doch keinen Augenblick an der grundsätzlichen Zusammengehörigkeit dieser beiden Bereiche des Kosmos, an ihrer engen Verflochtenheit – daran, dass sich über die zwischen ihnen gelegene Grenze ein dichtgewobenes Netz vielfältiger Kräfte und Beeinflussungen spannte, die hinüber und herüber spielten und wirksam waren und deren Wesen sich ihm in einer differenzierten Fülle von Bildern, Gleichnissen und mythologischen Begriffen erschloss.

Der objektivierenden Betrachtung der eigenen Umwelt, welche die eigentliche Aufgabe und Funktion der Naturwissenschaft bildet, hat dieses Weltverständnis, das wir heute das mittelalterliche nennen, nicht standgehalten. (…) Erstmals wurde hier der Mensch im Gefolge seines Versuchs, sich durch naturwissenschaftliche Abstraktion von der vertrauten Perspektive des Alltagsstandpunkts zu lösen, um die Welt so zu sehen, ‚wie sie wirklich ist‘, mit einer Möglichkeit konfrontiert, die ihn zutiefst erschrecken musste: mit der Möglichkeit, dass er in Wirklichkeit vielleicht in einem Kosmos existiere, dem er gleichgültig sei und der ihn nichts angehe. Damals wurde der Keim gelegt zu dem bis heute als gültig angesehenen ‚modernen‘ Weltbild, dessen Grundtenor darauf hinausläuft, dass die Erde mit allem, was auf ihrer Oberfläche existiert und lebt, in unausdenkbarer Einsamkeit und Verlorenheit in einem riesigen Universum schwebt, dem wir gleichgültig sind und dessen kalte Majestät mit uns nicht zu tun hat. (…) Wenn sich das naturgemäß auch nie beweisen lassen wird, so möchte ich trotzdem hier die Vermutung aufstellen, dass ein nicht geringer Anteil des in der Psyche des ‚modernen‘ Menschen vorzufindenden Zynismus und Nihilismus auf dem kalten Boden dieses Weltbildes gewachsen ist.

Eine der faszinierendsten und bedeutsamsten Einsichten, die sich heute in der Naturwissenschaft durchzusetzen beginnt, besteht nun in der Erkenntnis, dass dieses Weltbild in wesentlichen Zügen falsch ist. Das, was da draußen im Weltraum vor sich geht, der wenige tausend Meter über unseren Köpfen beginnt, ist alles andere als bedeutungslos für uns. Es hängt, wie die Wissenschaft im letzten Jahrzehnt zu entdecken begonnen hat, ganz im Gegenteil mit uns und den für unsere Existenz grundlegenden Bedingungen unserer unmittelbaren Umwelt auf der Erdoberfläche noch weitaus enger und direkter zusammen, als es alle frühere Mythologie vermutet hat. Vielleicht die großartigste und faszinierendste, ganz sicher aber die bedeutsamste Einsicht der modernen Erd- und Himmelskunde ist die sich seit einigen Jahren vorbereitende Erkenntnis, dass in dieser Welt, in der wir uns vorfinden, in Wirklichkeit alles eng miteinander verknüpft ist, das Größte mit dem Kleinsten, das uns allernächste noch mit dem, was sich an den Grenzen des für uns noch beobachtbaren Universums abspielt.“

Aus: Hoimar von Ditfurth, Kinder des Weltalls. Der Roman unserer Existenz, Hamburg 1970, Taschenbuchausgabe Droemer Knaur, München/Zürich 1980, S. 13–15


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