Die Wiese – einer der farbenprächtigsten Lebensräume der Welt

Das, was wir „WIESE“ nennen, ist mehr als eine unbewaldete, unverbuschte Fläche. Die Wiese ist ein Ökosystem – und zwar ein weitgehend unbekanntes. Während die meisten eine Buche von einer Eiche unterscheiden können, kennt kaum ein Mensch den Bärwurz, der steinigen Untergrund mag, das Gefleckte Knabenkraut, das auf feuchten und mageren Böden vorkommt, die Teufelskralle, die trocken warme Wiesen bevorzugt, und den Wiesenknopf, der nur auf lehmigen Böden gut gedeiht. Und obwohl die meisten Menschen sich nicht in der Wiese auskennen, so sind wir doch ihre Urheber: Denn Wiesen sind nicht „Natur pur“; sie sind eine Kulturlandschaft, die heute nur durch den Menschen überlebt. Nirgendwo sonst leben mehr Insektenarten, nirgendwo sonst herrscht eine solche Farbenpracht. Und gleichzeitig ist kein heimischer Lebensraum so sehr bedroht: Etwa ein Drittel Deutschlands war einst von blühenden Wiesen bedeckt. Heute sind es noch klägliche zwei Prozent.

Nicht nur im April und Mai ist die Wiese ein Meer aus leuchtenden Farben und filigranen Formen, dem tropischen Korallenriff durchaus ebenbürtig: sie ist ein Paradies für unzählige Tiere. Manche leben unterirdisch, andere im Dickicht der Halme und einige in der bunten „Wipfelregion“. Doch dieser farbenprächtigste Lebensraum der Welt ist permanent bedroht: Der Wald versucht immer wieder aufs Neue, auf die offenen Flächen vorzudringen, setzt der Wiese mit hunderttausenden Baumsamen zu. Sie landen auf fruchtbarem Boden und beginnen zu keimen. Der Schatten der kleinen Sprösslinge ist das Todesurteil für die bunten Wiesenblumen. Doch die Wiese hatte in der Vergangenheit starke Verbündete – so hielten große Pflanzenfresser wie Wisent und Auerochse, Tarpan und Nashorn über Jahrhunderte die kleinen Bäume kurz. Blumen, Gräsern und Kräutern macht die rabiate Behandlung nichts aus, sie brauchen sogar die regelmäßige „Verstümmelung“. Wiesenpflanzen können im Gegensatz zu Baumsamen aus der Basis neu austreiben.

Seit die Großtierherden Europas weitestgehend verschwunden sind, hängt der Lebensraum Wiese ganz vom Menschen ab. Weidevieh und regelmäßiges Mähen sorgen dafür, dass die bunte Blumenwiese noch bis Mitte des letzten Jahrhunderts weit verbreitet war. Erst mit Einzug der industrialisierten Landwirtschaft wurden aus den farbenprächtigen, aber nährstoffarmen Bauernwiesen durch Gülledüngung intensiv bewirtschaftete, monochrome Grasäcker. Hochleistungssorten überwucherten die Blütenpflanzen, allenfalls der Stickstoff liebende Löwenzahn taucht die „grünen Wüsten“ in ein sattes Dottergelb. Gehört die Blütenpracht der Bauernwiese von einst endgültig der Vergangenheit an? Extensive Beweidung und Bewirtschaftung zeigen, dass es auch in der Zukunft noch eine Chance für die Wiese gibt – einen der buntesten Lebensräume der Welt.

„Die Blumenwiese: Eine Welt, in der ein Drittel unserer Pflanzen- und Tierarten zu Hause ist. Kein anderer heimischer Lebensraum ist dem völligen Verschwinden so nahe wie die Blumenwiese. 98 Prozent des extensiven Grünlands ist in den letzten Jahrzehnten verschwunden; durch Umwandlung in Ackerland, durch Düngung mit Gülle und Kunstdünger und durch kurze Mähintervalle.“ (Dokumentarfilm „Die Wiese – Ein Paradies nebenan“, Regie: Jan Haft, 2018)

Die Wiese, an der ich jeden Nachmittag auf dem Heimweg vorbeikomme, hat ihr Sommerkleid angelegt. Ich zögere nur einen Moment, dann halte ich an, steige vom Rad und lege mich einfach hinein, liege auf dem Rücken in der blühenden Wiese, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Die Sonne liegt warm auf meinen geschlossenen Augenlidern. Ich tauche ein in diese Wärme, in das Gesumm und Gezirpe der Insekten im Gras, in den Duft von Blumen und Kräutern. Ich bin ein Teil dieser Wiese, ein Teil des Sommers. Wenn ich in den tiefblauen Himmel blinzle, möchte ich jubeln. Es ist das Glück des Augenblicks, in dem man ganz bei sich selbst ist, und in stiller Übereinstimmung mit dem, was im Moment geschieht. Es ist das Glück, im Hier und Jetzt einfach zu sein. (Hannah Valentin, Ein Tag voller Lebenslust, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2002, o. S.)

Im Jahr 1979 gründete Loki Schmidt, die Ehefrau des damaligen deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, die „Stiftung zum Schutze gefährdeter Pflanzen“, die 1985 in „Stiftung Naturschutz Hamburg und Stiftung zum Schutze gefährdeter Pflanzen“ umbenannt wurde. Einer der Hauptzwecke dieser Organisation ist die meist im Oktober des Vorjahres erfolgende Wahl zur Blume des Jahres, einer öffentlichen Aufklärungskampagne, die 1980 ins Leben gerufen wurde und über den ökologischen Wert von Wildblumen und ihrer Lebensräume informieren und zu einem besseren Schutz der ausgewählten Arten beitragen soll. Blume des Jahres 2024 ist die Grasnelke.

  • Dokumentarfilm „Die Wiese – Ein Paradies nebenan“ (Regie: Jan Haft, 2018)
  • Jan Haft, Die Wiese. Lockruf in eine geheimnisvolle Welt, Penguin Verlag, München 2019

 


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