Kapitel 9

RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT

DIE WELT-RELIGION JESU

BASISKURS BASILEIOLOGIE

 

 

 

Folgerungen, Konkretionen, Vertiefungen:

Gemeinsames Essen und Trinken – Feier des Lebens, Feier der Weltverbundenheit, Feier der Teilhabe am Reich Gottes

 

An die Stelle des Fastens tritt für Jesus und seine Leute das Fest. An die Stelle eines aus religiösen Gründen geübten zeitweiligen Verzichts auf Nahrung tritt jetzt, und zwar ebenfalls aus religiösen Gründen, das genaue Gegenteil: das bei einem Fest übliche gemeinsame Essen und Trinken. Miteinander zu essen und zu trinken, das scheint ein geradezu substanzieller Ausdruck dessen zu sein, was Jesus mit dem Begriff „Reich Gottes“ gemeint haben könnte.

Zu fasten wäre etwas Besonderes, Außergewöhnliches, Nicht-Alltägliches, aber zu essen und zu trinken? Das empfinden wir eher als etwas völlig Normales, einfach Lebensnotwendiges, manchmal fast Nebensächliches. Wie oft geschieht es im Vorübergehen, „to go“. Irgendwo las ich einmal „Coffee to stay“: Kaffee trinken, etwas essen – nicht schnell und nebenbei, sondern um zu verweilen, um zu genießen, um wahrzunehmen, was da eigentlich geschieht, und möglichst nicht allein, sondern mit anderen zusammen. Da stellt uns unsere Mitwelt, da stellen uns unsere Mitmenschen etwas bereit, was wir brauchen, was uns guttun soll. Wir nehmen es zu uns, könnten, wenn wir uns Zeit ließen, unsere geradezu existenzielle Verbundenheit mit unserer Mitwelt wieder neu und ganz konkret wahrnehmen. Wir sind aufeinander angewiesen, wir brauchen einander. Ein wunderbarer Zusammenhang wird spürbar, lässt sich geradezu „schmecken“, ohne den wir nicht wären.

Wenn wir diesen Weltzusammenhang wahrnehmen, ihn genießen, ihn feiern, spielt er selbst in das gemeinsame Essen und Trinken hinein: Uns kann es dann nicht gleichgültig sein, wie unsere Nahrung beschaffen ist, woher sie stammt, wie sie hergestellt worden ist, wie es der Erde, wie es dem Boden geht, der sie hervorgebracht hat, und den Menschen, deren Arbeit wir sie verdanken. Wir feiern unsere Weltverbundenheit, wir feiern das Leben. Und eben deshalb bleiben wir sensibel für das, was nicht stimmt in unserer Welt. Unsere Tischgemeinschaft bestärkt uns darin, für das Leben einzutreten, wo immer wir können. So gesehen, ist sie ja immer nur ein Ausschnitt oder Teil der ganzen großen „Tischgemeinschaft“, durch die wir mit allen Menschen auf der Erde verbunden sind, dem „Welttisch“, an dem für alle Menschen Platz sein muss.

 

In aller Vorsicht und unter Vorbehalt könnten wir an dieser Stelle schon einmal versuchen zu umschreiben, was Jesus mit der Teilhabe am „Reich Gottes“ (beziehungsweise mit der Teilnahme an einem „Hochzeitsfest“, womit er sie in seinem Wort zum Fasten wahrscheinlich vergleicht) gemeint haben könnte: Indem wir wieder wahrnehmen (etwa bei einem gemeinsamen Mahl), wie sehr wir in einen großen, uns bergenden, aber auch uns selbst mit einschließenden Zusammenhang eingebunden sind, nur durch ihn und mit ihm sind, was wir sind (unsere Mitmenschen, ohne die wir nicht wären und nicht leben könnten, unsere Mitwelt, die uns alles, was zu einem guten Leben nötig ist, zur Verfügung stellt), leben wir richtig, öffnet sich uns die ganze Fülle des Lebens. Wir existieren jetzt nicht mehr als von der Welt abgetrennte Individuen, vielmehr ist unsere Mitwelt zu unserer „dritten Haut“ geworden ist, die wir ganz selbstverständlich schützen und vor Verletzungen bewahren.

 

Ein „Essen zum Vergessen“*

In dem Sozial-Drama „Vor Sonnenaufgang“ von Gerhart Hauptmann von 1889 stieß ich im zweiten Akt auf folgende Passage (das Wort hat Alfred Loth, ein um die Verbesserung der sozialen Verhältnisse besorgter Volkswirt): „Mein Kampf ist ein Kampf um das Glück Aller; sollte ich glücklich sein, so müßten es erst alle anderen Menschen um mich herum sein; ich müßte um mich herum weder Krankheit noch Armuth, weder Knechtschaft noch Gemeinheit sehen. Ich könnte mich so zu sagen nur als Letzter an die Tafel setzen.“

Kann man tatsächlich nur glücklich sein, wenn es auch alle anderen sind? Könnten es aber die anderen, könnte es überhaupt irgendjemand sein, wenn es nicht alle wären? Können wir uns also de facto niemals „an die Tafel setzen“? In der Tat: Für den, der weltverbunden lebt, gibt es kein fremdes Leid. Immer betrifft es ihn auch selbst, und er sucht nach Möglichkeiten, dieses Leid zu lindern. Gleichwohl kennen wir alle Situationen, in denen wir die Verbundenheit mit unseren Mitmenschen und mit unserer Mitwelt einfach nur genießen. Wir leben dann – wie Kinder – ganz in der Gegenwart. Und wir spüren, wie kostbar solche Momente sind. Jetzt leben wir – richtig und gut! Wir brauchen solche Erfahrungen, um sensibel zu bleiben für all das, was nicht gut ist. Wir schöpfen daraus die Energie, aktiv zu werden – und es zu bleiben, Durststrecken auszuhalten. Und vielleicht sind unsere Erfahrungen einer uneingeschränkten Verbundenheit auch so etwas wie eine Decke, die eigenes Leid für eine Zeit verhüllt und es auf diese Weise ein wenig erträglicher macht oder die verhindert, dass das Leid anderer und die Verletzungen der Welt übermächtig werden und uns alles andere, all das Gute, ganz und gar vergessen lassen.

Gerade in einer Zeit, in der so vieles im Argen liegt, brauchen wir Erfahrungen des Richtigen, des Guten, zum Beispiel ein gemeinsames Essen. Sicher werden wir es „weltverbunden“ vorbereiten, etwa was die Auswahl und den Einkauf der Speisen angeht. Beim gemeinsamen Essen und Trinken selbst jedoch sollten wir ganz eintauchen in das, was sich eben jetzt ereignet, da sein, uneingeschränkt unser Miteinander erleben. Das „Vergessen“ stellt sich jetzt ganz von selbst ein, und das ist – für diese Momente – auch gut so und darf so sein. Umso wacher bleiben wir, vermute ich, wenn das, was sich für uns niemals ausblenden und verdrängen lässt, dann wieder voll präsent ist.

* Auf diese Formulierung kam ich nach der Lektüre eines mit den Worten „Ein Spiel zum Vergessen“ überschriebenen Artikels meines Sohnes Jörn über das Champions-League-Halbfinal-Hinspiel Manchester City gegen Real Madrid. Trotz beide Vereine betreffender höchst problematischer Praktiken, die auch benannt werden, seien es derart packende, fußballerisch glänzende 90 Minuten gewesen, dass sie für einen Moment alles andere vergessen ließen.

Claus Petersen

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