Kapitel 5

RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT

DIE WELT-RELIGION JESU

BASISKURS BASILEIOLOGIE

 

 

 

Das nachjesuanische Evangelium von Jesus als dem Christus und Gottessohn

 

Die ersten vier Bücher des Neuen Testaments werden heute „Evangelien“ genannt. In dem später Markus zugeschriebenen und wahrscheinlich ältesten von ihnen (verfasst um 70 nach der Zeitenwende) findet sich der Begriff „Evangelium“ gleich ganz Beginn, bezeichnet dort aber noch keine Literaturgattung, sondern bezieht sich auf den Inhalt dieser Schrift. Es ist, auch im Griechischen, gleich das dritte Wort:

 

Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes.

 

Die Worte „dem Sohn Gottes“ fehlen in einigen alten Handschriften. Doch obwohl bei unterschiedlichen Lesarten in der Regel der kürzere Text vorzuziehen ist, dürfte in diesem Fall aus inhaltlichen Gründen, von denen gleich die Rede sein wird, nämlich der Betonung der Gottessohnschaft Jesu in markanten Texten des Markusevangeliums, der längere Text ursprünglicher sein. [Der Frage der Textüberlieferung des Neuen Testaments und der Rekonstruktion desjenigen Wortlauts, der dem Urtext am nächsten kommt, widmet sich Exkurs 3: Der Text des Neuen Testaments.]

 

Gegenstand auch dieses Verständnisses des Begriffs „Evangelium“ ist somit wiederum und in diesem Fall ganz dezidiert Jesus als der Christus und Gottessohn, nicht seine Botschaft.

Er selbst ist die „gute Nachricht“, und zwar in seiner Einzigartigkeit als Christus und Gottessohn. Dass Jesus kein Mensch wie jeder andere ist, sondern der Christus, das heißt, der (von Gott) Gesalbte (auf Hebräisch: der Messias), ja der Sohn Gottes, genau das will „Markus“ mit seiner Schrift aufzeigen, genau dieses Evangelium von Jesus als dem Christus und Gottessohn will er vermitteln. Man könnte es das „christologische Evangelium“ nennen (der theologische Fachbegriff „Christologie“ bezeichnet die Lehre von der Person Jesu als Messias/Christus). Danach ist er nicht ein Mensch wie jeder andere, sondern steht mit Gott in einer ganz besonderen, exklusiven Beziehung. Daran gelte es zu glauben.

 

Auch dieses „christologische Evangelium“ geht keinesfalls auf Jesus von Nazaret selbst zurück, sondern hat sich erst in der Zeit nach Jesu Tod herausgebildet.

Nie hat Jesus den Anspruch vertreten, gegenüber allen anderen Menschen eine besondere, unvergleichlich höhere Position einzunehmen, eine Stellung innezuhaben, die ihn in die Nähe Gottes rückt und seine Person selbst damit zum Glaubensgegenstand erhebt. Man kann dies nicht nachdrücklich genug unterstreichen, da die synoptischen Evangelien – vom Johannesevangelium ganz zu schweigen – bereits einen ganz anderen Eindruck vermitteln. Bereits Markus, der älteste Evangelist, lässt ja von Anfang an keinen Zweifel aufkommen, dass er mit seiner Schrift seine Leser*innen für den Glauben – nicht wie Jesus selbst geglaubt hat, sondern – an ihn selbst gewinnen oder ein solches Glaubensverständnis bestätigen möchte. Dies zeigt nicht nur die Überschrift, die er seinem Buch voranstellt, sondern auch die Art und Weise, wie er es konzipiert hat. Sein Anliegen, Jesus als den Christus und Gottessohn anzuerkennen, bildet sowohl den Rahmen als auch die Mitte seines Evangeliums. Gleich zu Beginn, unmittelbar nach Jesu Taufe, „geschieht aus dem Himmel die (göttliche) Stimme: Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen“ (Markus 1,11). In der Mitte stehen das Bekenntnis des Petrus: „Du bist der Christus“ (8,29) und die (göttliche) Stimme aus der Wolke: „Dies ist mein lieber Sohn, den sollt ihr hören” (9,7). Und am Ende, unmittelbar nach Jesu Tod, bekennt der Hauptmann am Kreuz: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“ (15,39) Nicht nur bei den Stimmen aus dem Himmel beziehungsweise aus der Wolke, sondern auch bei den beiden anderen bekenntnishaften Sätzen handelt es sich nicht um historische Erinnerungen; vielmehr bringt der Verfasser an den markantesten Stellen seines Evangeliums zum Ausdruck, wer der Jesus, von dem es handelt, in seinen Augen in Wahrheit gewesen ist und wen seine Leser in ihm „sehen“ sollen.

 

Für die Kirchen ist dieses nichtjesuanische Evangelium von Jesus als dem Christus und Gottessohn von grundlegender Bedeutung.

Es ist zum Zentrum des „apostolischen Glaubensbekenntnisses“ geworden, dessen zweiter Artikel lautet: „…und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten, unter Pontius Pilatus gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten“. Und auch der sehr ausführliche Mittelteil des Nicäno-Konstantinopolitanum ist durch und durch vom „christologischen Evangelium“ geprägt. Jesus als der Christus wird hier im Grunde genommen Gott gleichgestellt. „…und an den einen Herrn Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit, Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater, durch ihn ist alles geschaffen. Für uns Menschen und zu unserm Heil ist er vom Himmel gekommen, hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden. Er wurde für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus, hat gelitten und ist begraben worden, ist am dritten Tage auferstanden nach der Schrift und aufgefahren in den Himmel. Er sitzt zur Rechten des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit, zu richten die Lebenden und die Toten; seiner Herrschaft wird kein Ende sein.“ Das „soteriologische Evangelium“ ist im Apostolischen Glaubensbekenntnis durch das „gelitten“ lediglich angedeutet, im Nicäno-Konstantinopolitanum tritt es durch das zusätzliche „für uns“ etwas deutlicher zutage. In beiden Bekenntnissen aber bildet ausschließlich die Person Jesu, und zwar als ein überirdisch-göttliches Wesen, das Zentrum des Glaubens, seine Botschaft, seine Existenzweise als Mensch sind, mit Ausnahme seiner Passion, vollkommen belanglos.

Das „christologische Evangelium“ bildet denn auch die „Basis“ (Abschnitt I.) der am 30. August 1948 verabschiedeten Verfassung des Ökumenischen Rats der Kirchen („Der Ökumenische Rat der Kirchen ist eine Gemeinschaft von Kirchen, die den Herrn Jesus Christus gemäß der Heiligen Schrift als Gott und Heiland bekennen und darum gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu sie berufen sind, zur Ehre Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“) und ist das entscheidende Kriterium für die Mitgliedschaft („In den Ökumenischen Rat der Kirchen können alle diejenigen Kirchen aufgenommen werden, die ihre Zustimmung zu der Basis erklären, auf welcher der Ökumenische Rat gegründet ist“, Beginn des Abschnitts II.: Mitgliedschaft).

Martin Luther hat das „christologische“ ganz mit dem „soteriologischen Evangelium“ verschmolzen, jenes diesem zu- und untergeordnet. Denn natürlich setzt das „soteriologische Evangelium“ die Christologie, also die Lehre, das Jesus der „Christus“ ist, voraus. So bezeichnet Martin Luther in seiner „Vorrede zum Neuen Testament“ dieses „christologisch-soteriologische Evangelium“ als das eine Evangelium schlechthin: „So sehen wir nun, dass es nicht mehr als ein Evangelium gibt, gleichwie nur einen Christus, sintemal Evangelium nichts anderes ist noch sein kann als eine Predigt von Christus, Gottes und Davids Sohn, wahrem Gott und Mensch, der für uns mit seinem Sterben und Auferstehen aller Menschen Sünde, Tod und Hölle überwunden hat, die an ihn glauben “ (WA.DB 6, S. 6, Z. 22–27). Da ist es nur konsequent, dass Martin Luther den Leserinnen und Lesern des von ihm übersetzten Neuen Testaments von allem die Briefe des Paulus ans Herz legt und von den Evangelien allein das Johannesevangelium empfiehlt, das einzige, dass nicht einmal mehr die geringsten Spuren eines ganz anderen Evangeliums aufweist. Es sei „das einzige, schöne, rechte Hauptevangelium und den andern dreien weit, weit vorzuziehen und höher zu heben. Ebenso gehen auch des Paulus und Petrus Briefe weit den drei Evangelien des Matthäus, Markus und Lukas voran.“ (Ebd. S. 10, Z. 25–28)

Das „christologisch-soteriologische Evangelium“ ist in der Tat das eine Evangelium der Kirche, der christlichen Kirche, des Christentums. Das Sinnbild dieser Kirche und Weltreligion, ihr Symbol schlechthin, ist das Kreuz. Nicht etwa das Kreuz als Mahnmal für alle Menschen, die aufgrund ihres Einsatzes für Gerechtigkeit und Frieden gefoltert und ermordet worden sind und immer noch werden, sondern ganz klar und völlig anders als ein Zeichen des Heils und der Erlösung.

Und im Grunde ist es tatsächlich das Evangelium des Neuen Testaments. All seine Schriften sind ausschließlich von diesem Evangelium geprägt. Das gilt selbst für die vier Evangelien: Das dem Johannes zugeschriebene jüngste Evangelium (es ist vermutlich gegen Ende des ersten Jahrhunderts nach der Zeitenwende entstanden) bietet Erzählungen über Jesus und legt ihm Worte in den Mund, die allesamt erst in nachjesuanischer Zeit formuliert und Jesus samt und sonders erst im Nachhinein zugeschrieben worden sind, aber auch schon das älteste, das des „Markus“ folgt, wie wir festgestellt haben, einer christologischen Konzeption. Gleiches gilt für die Evangelien des „Matthäus“ und des „Lukas“.

Gleichwohl: Martin Luther hat sich geirrt. Das Neue Testament bezeugt, wenn man genau hinsieht, eben doch „mehr als ein Evangelium“. Im Markusevangelium begegnet uns wortwörtlich, expressis verbis, ein weiteres, sich von den bisher genannten Qualifizierungen des Begriffs „Evangelium“ grundlegend unterscheidendes Verständnis dieses Begriffs. Ihm ist das folgende Kapitel gewidmet.

Claus Petersen

 

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