Kapitel 43

RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT

DIE WELT-RELIGION JESU

BASISKURS BASILEIOLOGIE

 

 

Folgerungen, Konkretionen, Vertiefungen:

Eine Ökonomie des Genug für alle

 

Nach dem Tod Joseph Hellers, des Autors von Catch 22,
veröffentlichte der mit ihm befreundete Schriftsteller Kurt Vonnegut
im
New Yorker einen Nachruf in Gedichtform:

Wahre Story, Ehrenwort:
Joseph Heller, ein wichtiger, witziger Schriftsteller,
jetzt tot,
und ich waren auf der Party eines Milliardärs
auf Shelter Island.
Ich fragte: »Joe, wie fühlt es sich an
zu wissen, dass unser Gastgeber allein gestern
mehr Geld verdient hat
als du mit Catch 22
seit der Veröffentlichung?«
Und Joe sagte: »Ich habe etwas, das er nie haben wird.«
Und ich sagte: »Was in aller Welt kann das sein, Joe?«
Und Joe sagte: »Das Wissen, dass ich genug habe.«

César Rendueles, Gegen Chancengleichheit. Ein egalitaristisches Pamphlet.
Aus dem Spanischen von Raul Zelik, Berlin 2022, S. 89f.

 

Ein Denar am Tag. Ein nicht von der erbrachten Leistung abhängiges existenzsicherndes Einkommen, ein living wage, für alle. Unter der Voraussetzung, dass alle, auch die zuletzt Eingestellten, arbeiten wollen. Alle haben zur Verfügung, was sie für ein gutes Leben brauchen. Alle haben genug – nicht mehr und nicht weniger. Und es ist für alle in etwa dasselbe. Es ist diese Ökonomie des Genug für alle, die sich von selbst ergibt, die selbstverständlich ist, wenn man – was Jesus mit der Teilhabe am Reich Gottes gleichsetzt – wie jener Weinbergbesitzer Menschen nicht als Arbeitskräfte, sondern als seine Freunde betrachtet und dementsprechend mit ihnen umgeht.

Nun wird der Gleichheit aller Menschen wirklich Rechnung getragen. Also keine, überhaupt keine Einkommensspreizung mehr, nicht nur extreme Verhältnisse wie diese gehören der Vergangenheit an: Laut der am 28. September 2022 veröffentlichten jährlichen Vergleichsstudie der Technischen Universität München (TUM) und der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) verdienten die Vorstandsmitglieder der im Deutschen Aktienindex (DAX) gelisteten Unternehmen im Jahr 2021 mit durchschnittlich 3,9 Millionen Euro 53 mal so viel, wie ihre Beschäftigten im Durchschnitt erhielten. Im Jahr davor war es noch das 47-Fache. Die Spanne bei dem Essenslieferanten Delivery Hero war seinerzeit am größten: Während die Mitglieder des Vorstands die Firma im Schnitt 3,2 Millionen Euro kosteten, gab sie für jeden Mitarbeiter und jede Beschäftigte – vor allem Essenskuriere – nur 27.000 Euro aus, was einem Verhältnis von 121 zu eins entspricht. Es folgte der Industriekonzern Linde: Die Beschäftigten erhielten dort im Schnitt 73.000 Euro, die Vorstände 5,9 Millionen Euro – das heißt das 80-Fache.

Und während heute ein einziges Prozent der Weltbevölkerung fast die Hälfte des gesamten Weltvermögens sein Eigen nennt, wie aus dem Bericht „Survival of the Richest“ (Überleben der Reichsten) hervorgeht, den die Nothilfe- und Entwicklungsorganisation Oxfam am 16. Januar 2023 anlässlich des Weltwirtschaftsforums in Davos vorgelegt hat, wäre jetzt überhaupt kein privates Vermögen mehr erforderlich, denn es ist selbstverständlich sichergestellt, dass in besonderen Lebenssituationen auch eventuell anfallende Mehrkosten von der Gesellschaft getragen würden.

Ohnehin stünde ein von der gesamten Gesellschaft getragenes Netz an Angeboten und Dienstleistungen zur Verfügung, das die Grundbedürfnisse abdeckt: Bildungseinrichtungen nicht nur für Kinder und Jugendliche, sondern auch für Erwachsene, eine Gesundheitsversorgung für alle, ein kostenloser öffentlicher Nahverkehr, angemessener, zu pachtender Wohnraum für jeden Haushalt, vielleicht auch ein Stück Land, um es zu bebauen, oder ein Gartengrundstück zum Bepflanzen beziehungsweise die Möglichkeit zum „Urban Gardening“, zum Gärtnern auf öffentlichen Flächen in größeren Städten, eine kommunale Wasser- und Energieversorgung. Privatisierungen sind jetzt ausgeschlossen.

So etwa könnte man sie sich vorstellen, diese Ökonomie des Genug für alle. Für diejenigen, die wie der Gutsbesitzer in jener Beispielgeschichte Jesu Menschen nicht auf ihre Funktion oder ihre Leistung reduzieren, sondern mit ihnen als ihren Gefährt:innen, Genoss:innen, ja als Freund:innen verbunden sind, kommt nichts anderes mehr in Frage. Im Grunde stellt diese Erzählung die Weichen für eine völlige Entkoppelung von Arbeit und Einkommen. Wirklich in der Lage, seine Fähigkeiten zu entfalten und sie zum Wohl von Mensch und Gesellschaft einzusetzen, wäre er doch nur, wenn er dabei nicht sein eigenes Auskommen im Blick haben und notgedrungen deshalb eventuell auch das tun müsste, was er im Grunde nicht tun möchte, sondern seine materielle Lebengrundlage, völlig unabhängig von seiner Leistung, bedingungslos gesichert ist.

Jetzt geben wir einander, „was recht ist“, und jeder Mensch trägt das Seine dazu bei. Alle erhalten den „einen Denar am Tag“, einfach aufgrund ihres Menschseins. Welch eine Befreiung wäre es, wenn es gelänge, unsere Weltökonomie in dieser Weise umzubauen: also ein gleiches Einkommen für alle – kein Grundeinkommen, das dann auch aufgestockt werden könnte, sondern tatsächlich für alle in etwa dasselbe, nicht nur eine egalitäre Gesellschaft, in der alle in etwa das Gleiche erhalten, wobei im Extremfall auch alle gleich reich sein könnten, sondern eine Gesellschaft, die auf der Gleichheit des Genug für alle besteht. Von dem globalisierten Kapitalismus unserer Zeit – für so viele Menschen, Tiere, Ökosysteme nichts als die Hölle – mag eine solche Ökonomie des Genug für alle himmelweit entfernt erscheinen, utopisch ist sie nicht. Schon der Vorsatz, jenes Genug für alle weltweit umzusetzen, würde uns beflügeln. Ist es denn nicht das, was allen Menschen dieser einen Erde allein gemäß wäre? Warum also sollte es möglich sein? „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Jetzt würden wir diesem ersten Satz des Artikels 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen wirklich gerecht – „and the world will live as one“, und die Welt wird eins sein.

Bereits im Alten Testament übrigens kommt eine solche Ökonomie des Genug in den Blick, allerdings in Gestalt einer Wundergeschichte. Vielleicht ist es aber auch eine Art Traum, der bewusst in einen Zusammenhang gestellt worden ist, der von der Wüstenwanderung des Volkes Israel aus der Knechtschaft ins gelobte Land erzählt. Auf diesem Weg durch die Wüste wird es mit Manna gespeist, „Brot, das euch Jahwe zu essen gegeben hat“, wie Mose ihm erklärt und ihm in göttlichem Auftrag mitteilt, wie es damit umzugehen habe: „Jeder sammle, so viel er zum Essen braucht, einen Krug voll für jeden nach der Zahl der Leute in seinem Zelt. Und die Israeliten taten es und sammelten, einer viel, der andere wenig. Aber als man nachmaß, hatte der, der viel gesammelt hatte, nicht zu viel und der, der wenig gesammelt hatte, nicht zu wenig. Jeder hatte gesammelt, was er zum Essen brauchte.“ (2. Mose 16,16–18) Ulrich Duchrow bezeichnet diese Geschichte von der Speisung des Volkes in der Wüste als „Magna Charta der biblischen Ökonomie“: „Das ist die Ökonomie des Genug für alle. Die Zapatisten in Mexiko wollen auf das Gleiche hinaus, wenn sie ihr Ziel beschreiben als ‚eine Gesellschaft, in der alle im Einklang mit der Natur Platz haben‘. Diese Ökonomie ist an den Lebensbedürfnissen der Menschen über die Generationen hinweg orientiert, nicht an der kurzfristigen maximalen Akkumulation von Kapital durch möglichst hohe Profite der Kapitaleigner.“ (Ulrich Duchrow, Ein Briefwechsel zwischen Arm und Reich und seine Folgen, in: Briefe an den Reichtum, herausgegeben von Carl Amery, München 2005, S. 216–257, Zitat S. 223) Wenn er die Zapatisten erwähnt, indigene sozialrevolutionäre Gruppen im Süden Mexikos, assoziiert man unwillkürlich viele andere indigene Gemeinschaften im globalen Süden, die jene Ökonomie des Genug für alle vermutlich ebenso und immer noch ganz selbstverständlich praktizieren.

Eine solche Ökonomie setzt eine völlig andere Sicht auf Mensch und Welt voraus als jene, die nur dem immer weiter wachsenden Wohlstand der ohnehin schon Reichen dient. Doch wenn der Sauerteig des Reiches Gottes unsere Verbundenheit mit unseren Mitmenschen, ja mit unserer ganzen Mitwelt wiederbelebt hat, müssen und werden sich die ökonomischen Verhältnisse von Grund auf ändern. Nicht mehr Leistung und Leistungsfähigkeit, sondern die Bedürfnisse von Mensch und Natur sind jetzt alleiniger und alles bestimmender Maßstab. Und wir können dem – wenn auch in kleinem Maßstab – durchaus jetzt schon entsprechen, etwa indem wir uns selbst mit dem Genug begnügen, indem wir zum Beispiel bei unseren Einkäufen darauf achten, dass diejenigen, die die entsprechenden Produkte hergestellt haben, angemessen bezahlt werden, dass die Erde im Zuge ihrer Herstellung nicht geschädigt wird oder indem wir mit dem Geld, das wir nicht brauchen, denen, die oft viel zu wenig haben, zumindest zu einem Mehr, vielleicht sogar zum Genug verhelfen.

Diese Grundorientierung war es, die der Jesuserzählung zufolge das Verhalten des Weinbergbesitzers bestimmte. Ob seine Antwort, mit der er sein Verhalten begründet, den Beschwerdeführer erreicht hat, wissen wir nicht. Aber wie gehen wir damit um? Rufen wir sie uns noch einmal in Erinnerung: „Freund, ich tue dir kein Unrecht. Bist du nicht um einen Denar mit mir übereingekommen? So nimm das Deine und geh. Ich will diesem Letzten dasselbe geben wie dir.“

Claus Petersen

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