Kapitel 39

RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT

DIE WELT-RELIGION JESU

BASISKURS BASILEIOLOGIE

 

Folgerungen, Konkretionen, Vertiefungen:

Das Leben nicht verfehlen

 

Lebe in Achtung vor allen und in Solidarität mit allen, die während dieses Abenteuers
auf der Erde deine Lebensgefährten sind, seien sie Menschen oder nichtmenschliche Wesen,
und kümmere dich darum, dass alle weiter existieren und leben können,
zumal ihnen das ganze Universum ja sozusagen als Geburtshelfer beigestanden hat,
damit sie in ihre Existenz gelangen konnten, Leben mitgeteilt bekamen
und den Weg bis in die Gegenwart zu finden vermochten!

Leonardo Boff (* 1938, brasilianischer katholischer Theologe und einer der Hauptvertreter
der Befreiungstheologie),
Die Botschaft des Regenbogens, Düsseldorf 2002, S. 141

 

„Erwählung“ – ob ein solches Wort
wohl noch Vernunft hat, noch Sinn?
Nach so viel Vernichtungsorgien
von Menschen, von Völkern,
die sich erwählt glaubten,
denke ich eher: Nein.
Es wäre denn,
wir wollten unter Erwählung verstehen,
dass Pflanzen, Tiere, Menschen,
dass alles, was lebt,
dazu ausersehen ist,
auf diesem kleinen Planeten
eine Vergänglichkeit lang
atmen, lieben, sich tummeln zu dürfen.
So: ja.
Nur so.

Ich stelle mir vor: auch
der Erdmatriot aus Nazareth
hätte das Wort Erwählung
nicht anders brauchen mögen.

Kurt Marti (1921–2017, Schweizer Pfarrer und Schriftsteller),
Die gesellige Gottheit. Ein Diskurs, Stuttgart 2004, S. 12f.

 

Stand up and hold the line!
Widersetz dich und bleib standhaft!

Aufruf der philippinischen Journalistin, Autorin
und Trägerin des Friedensnobelpreises Maria Ressa

 

Ein Festmahl steht bereit, und zwar schon jetzt. Das ist der Ausgangspunkt des Gleichnisses Jesu von der Einladung zu eben jenem Festmahl, und das ist zugleich der Kern dessen, was Jesus den Menschen vermitteln wollte. Das zur Teilnahme bereitstehende Festmahl ist eine Metapher für das Reich Gottes, für das Leben in seiner ganzen Fülle, an dem wir teilhaben können und sollen. Es ist ein Bild für das Leben, wie es sein soll und eben auch sein kann, das Leben selbst, das man leben, das man aber auch verfehlen kann.

Im Gleichnis verfehlen es gerade die, die es zu leben meinen, die es gut zu leben, gut zu meistern scheinen, die Erfolgreichen, die, die glauben, es zu etwas gebracht zu haben. Gerade sie sehen sich nicht in der Lage, das Fest mitzufeiern, sich dem Leben selbst zu öffnen. Und sie scheinen es nicht einmal zu bedauern. Viel wichtiger ist jetzt der Acker, sind jetzt die fünf Ochsengespanne, ist jetzt die Gattin, ist jetzt die eigene kleine Welt.

So ist es mit dem Reichtum, der „natürlich“ vermehrt werden muss, darin kann aber auch die Tragik persönlicher Beziehungen bestehen, dass sie den großen Zusammenhang, in dem wir existieren, vollkommen ausblenden, ja ihn zu ersetzen scheinen. Man richtet sich ein in seiner kleinen Welt, spürt gar nicht mehr, dass dieser Kokon immer dichter und undurchlässiger wird, wird blind, taub, stumpft ab für das Leben selbst, kann seinem Ruf nicht mehr folgen.

Was aber ist das Leben, das mitgefeiert werden soll und kann? Ich möchte es hier mit den Worten John Lennons ausleuchten, die er in seinem so viele Menschen faszinierenden Lied „Imagine“ dafür gefunden hat. Nur möchte ich den Titel und die immer wiederkehrende Aufforderung „Stell dir vor!“ ersetzen durch die Worte, die der Einladung zum Gastmahl nachempfunden sind: „Komm, lebe es, es ist möglich, es steht bereit und wartet darauf, dass du dich daran beteiligst!“

Nicht, um einmal in den Himmel zu kommen, nicht aus Angst vor der Hölle, sondern hier und jetzt wollen wir leben, wirklich leben – auf dieser einen Erde, einer Erde ohne Mauern, ohne Grenzen in dieser so einzigartigen, so wundervollen, so überaus vielfältigen Welt, die uns alles zur Verfügung stellt, was für ein gutes Leben nötig ist. Im Einklang mit ihr wollen wir leben, das ist unsere Religion. Allen soll es gut gehen, alle sollen leben können ohne Angst, sollen dort leben können, wo sie leben möchten. Nicht im Wettstreit wollen wir leben, nicht gegeneinander, sondern miteinander, als Gleiche unter Gleichen (und auch materiell Gleichgestellten), aber auch als Besondere unter lauter Besonderen. Warum sollten da noch Menschen getötet werden oder andere töten? Wir verfügen über das, was wir brauchen und verlangen niemals auch nur ein Quäntchen mehr. Und dies muss selbstverständlich für jeden Menschen auf dieser Erde gelten. Ja, so leben wir, und ja, wir glauben ganz bestimmt, dass allen Menschen nichts lieber wäre als ein solche Existenzweise. Nein, wir sind keine Träumer:innen, wir leben dieses Leben – trotz allen Scheiterns, trotz aller Widersprüche. Und es gibt so viele, die es ebenso tun oder es doch versuchen. Wir sind es, die nach wie vor diese eine Erde, diese eine Menschheitsfamilie, mehr noch: diese eine Familie des Lebens repräsentieren. Man könnte es, dieses Leben in, mit und für die ganze Welt, das Reich Gottes nennen. Heaven is here on earth.

„Komm, lebe es, es ist möglich, es steht bereit und wartet darauf, dass du dich daran beteiligst!“ Können Sie die Einladung hören? Können, werden Sie ihr folgen?

Claus Petersen

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