Kapitel 32

RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT

DIE WELT-RELIGION JESU

BASISKURS BASILEIOLOGIE

 

 

 

„… bis Johannes. Von da an … das Reich Gottes …“

Epochenwechsel! Zeitenwende! (Matthäus 11,12f. / Lukas 16,16)

Das dreizehnte der 21 Jesusworte

 

Auch das folgende Jesuswort ist der Logienquelle entnommen. Allerdings weicht der Wortlaut, den das Matthäus- und das Lukasevangelium jeweils bieten, stark voneinander ab. Hinzu kommt das Problem, dass einige der verwendeten griechischen Wörter in unterschiedlicher Weise verstanden beziehungsweise übersetzt werden können. Schon der Theologe und Kirchenhistoriker Adolf von Harnack (1851–1930) konstatierte vor über hundert Jahren resigniert: „Es gibt wenige Worte Jesu, über die sich eine solche Flut von Erklärungen in verschiedenen Kombinationen ergossen hat und deren Verständnis doch so unsicher geblieben ist” (Zwei Worte Jesu, Sitzungsberichte der preußischen Akademie der Wissenschaften – Philosophisch-historische Klasse, 1907, S. 942–957, hier S. 947). Bis heute hat sich daran im Wesentlichen nichts geändert.

Um zumindest im Grundsatz den Versuch nachvollziehen zu können, aus den beiden disparaten Überlieferungen das ursprüngliche Jesuswort jedenfalls im Ansatz zu rekonstruieren, werden sie zunächst jeweils gesondert zitiert:

Matthäus 11,12f. lautet (das ‚matthäische‘ „Reich der Himmel“ ist gleich durch „Reich Gottes“ ersetzt, vgl. Kapitel 26): „Von den Tagen Johannes des Täufers bis jetzt bricht sich das Reich Gottes mit Gewalt Bahn/erleidet das Reich Gottes Gewalt, und Gewalttäter rauben es/reißen es an sich. Denn alle Propheten und das Gesetz weissagten bis Johannes.“

Lukas 16,16 lautet: „Das Gesetz und die Propheten: bis Johannes. Von da an wird das Reich Gottes verkündigt, und jeder drängt sich gewaltsam in es hinein.“

Dass das Wort in seiner, wie gesagt, nicht mehr einigermaßen sicher herstellbaren Urform auf Jesus zurückgeht, ist allerdings kaum zu bestreiten. Hier wie dort geht es um das Reich Gottes, und das, was mit ihm geschieht, ereignet sich jetzt. So fasst der Neutestamentler Ferdinand Hahn (1926–2015) denn auch – trotz aller nicht restlos zu klärenden Problemen – zusammen: „Wie immer das Logion ursprünglich verstanden wurde, unverkennbar ist jedenfalls, dass die Gottesherrschaft als gegenwärtig angesehen wird.“ (Theologie des Neuen Testaments. Band 1, Tübingen 2005, 2. Auflage, S. 60).

Die Näherbestimmung des Johannes durch „der Täufer“ in Matthäus 11,21 dürfte auf den Evangelisten zurückgehen. Gleiches gilt vice versa für das Verkündigen des Reiches Gottes in Lukas 16,16, eine für diesen Evangelisten typische Ausdrucksweise. Näher am ursprünglichen Wortlaut ist sicher der schwierigere, allerdings gleichwohl unverständliche Ausdruck, den das Matthäusevangelium bietet („…bricht sich das Reich Gottes mit Gewalt Bahn/erleidet das Reich Gottes Gewalt“).

Die Vorstellung, dass die Zeit des Reiches Gottes bereits mit Johannes dem Täufer beginnt („Von den Tagen Johannes des Täufers…“), dürfte wiederum auf den Evangelisten Matthäus zurückgehen. Nur in seinem Evangelium verkündigt bereits dieser und nicht erst Jesus, dass das Reich Gottes gekommen ist (Matthäus 3,2). Und wenn es bei ihm trotzdem am Schluss heißt: „Denn alle Propheten und das Gesetz weissagten bis Johannes“, entspricht dies dem Beginn des Wortes im Lukasevangelium: „Das Gesetz und die Propheten: bis Johannes.“ Dass Johannes noch zur alten, inzwischen vergangenen Zeitepoche gehört, ginge aber auch mit der Biografie Jesu parallel, wie gleich noch näher begründet werden wird.

So liegen uns – bei aller Unsicherheit – zumindest Rudimente des Jesusworts vor. Die Übersetzung entspricht dem Text des Lukasevangeliums wortwörtlich bis zu dem Begriff „Reich Gottes“. Er ist das Subjekt des begonnenen Satzes, dem im Griechischen die Satzaussage – anders als in diesem Fall im Deutschen – erst folgt.

 

Das Gesetz und die Propheten: bis Johannes.
Von da an … das Reich Gottes … (?).

 

So unsicher das Verständnis des Textes auch bleibt, so lässt er immerhin eine wichtige Schlussfolgerung zu: Aus der Sicht Jesu hat sich nach dem Auftreten Johannes des Täufers ein, ja, man hat den Eindruck: der grundlegende und entscheidende Epochenwechsel der ganzen Weltgeschichte vollzogen. Die Zeit des „Gesetztes und der Propheten“ ist vorbei, etwas völlig Neues hat begonnen. Eine Zeitenwende hat sich ereignet. Die „Reich-Gottes“-Zeit ist angebrochen.

Die Erwähnung gerade des Johannes – gemeint ist Johannes der Täufer – hat eine direkte biografische Komponente: Jesus hat sich eine Zeitlang bei Johannes aufgehalten, bevor ihm die Möglichkeit einer ganz anderen Existenzweise aufgegangen ist. Somit repräsentiert er selbst mit seiner Person jene weltgeschichtliche Wende, die er hier – das ist trotz aller inhaltlichen und überlieferungsgeschichtlichen Probleme klar zu erkennen – eindrücklich herausstellt.

 

Die Hinwendung Jesu zu Johannes dem Täufer und seine Abkehr von ihm

 

Johannes der Täufer führte weitab von der Zivilisation am Jordan ein äußerst einfaches, ja karges Leben. Laut durchaus glaubwürdiger biblischer Überlieferung war er mit einem Gewand aus Kamelhaaren bekleidet, das von einem ledernen Gürtel zusammengehalten wurde, und ernährte sich von Heuschrecken und wildem Honig (vgl. Matthäus 3,4). Auf diese Weise bereitete er sich auf das Kommen Gottes vor, das er in allernächster Zukunft erwartete. Seine Botschaft lautet: „Die Axt ist den Bäumen schon an die Wurzel gelegt. Darum: Jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.“ (Matthäus 3,10 / Lukas 3,9) Alle, die dieser Naherwartung Glauben schenkten und mit ihr Ernst machten, also die Umkehr vollziehen und von nun an nur noch „gute Früchte bringen“ wollten, um im göttlichen Gericht bestehen zu können, wurden von ihm im Jordan getauft. Dieses rituelle Abwaschen alles bislang Falschen und Verkehrten „versiegelte“ sie gleichsam für das als unmittelbar bevorstehend erwartete göttliche Gericht. Jesus, so ist zu vermuten, hatte von Johannes erfahren. Seine Botschaft und Lebensweise müssen ihn stark beeindruckt und angezogen haben. Dass er Johannes aufgesucht und sich von ihm hat taufen lassen, zeigt, dass er dessen Ansage des baldigen Kommens Gottes zunächst Glauben geschenkt und dessen radikal-asketische Lebensweise eine Zeitlang für sich übernommen haben dürfte.

Später jedoch erweist Jesus sich geradezu als Antipode seines einstigen Lehrers: Er fastet nicht, lehnt das Fasten sogar grundsätzlich ab (Markus 2,19a), feiert vielmehr, wird „Fresser und Weinsäufer“ (Matthäus 11,19 / Lukas 7,34) genannt. Er wirkt nicht mehr, wie Johannes, am Rande oder jenseits der zivilisierten Welt, sondern in der lieblichen, kleinräumig-sanften Gegend am See Genezaret.

Der römisch-jüdische Historiker Flavius Josephus (37 bis ca. 100 n. d. Z.) beschreibt sie mit folgenden Worten: „Den Gennesar entlang erstreckt sich eine gleichnamige Landschaft von wunderbarer natürlicher Schönheit. Der Boden ist so fett, dass jede Pflanze wachsen kann, und die Bewohner haben ihn auch mit allen möglichen Arten bepflanzt, zumal das ausgezeichnete Klima zum Gedeihen der verschiedensten Gewächsarten beiträgt. Nussbäume, die am meisten der Kühle bedürfen, wachsen dort in großer Menge ebenso wie Palmen, die nur in der Hitze gedeihen; nahe bei ihnen stehen Feigen und Ölbäume, denen eine gemäßigte Temperatur mehr zusagt. Was sich hier vollzieht, könnte man ebenso einen Wettstreit der Natur nennen, die das einander Widerstrebende auf einen Punkt zu vereinen trachtet, wie einen edlen Kampf der Jahreszeiten, von denen jede diese Landschaft in Besitz zu nehmen sucht. Der Boden bringt die verschiedensten Obstsorten nicht bloß einmal im Jahr, sondern fortwährend hervor. So liefert er die königlichen Früchte, Weintrauben und Feigen, zehn Monate lang ohne Unterbrechung, während die übrigen Früchte das ganze Jahr hindurch mit jenen reif werden. Zu dem milden Klima gesellt sich die Bewässerung durch eine sehr kräftige Quelle, die von den Eingeborenen des Landes ‚Kapharnaum‘ genannt wird. Einige haben diese Quelle für eine Ader des Nils gehalten, da sich in ihr Rabenfische wie im See bei Alexandreia finden. Die Landschaft dehnt sich am Ufer des gleichnamigen Sees in einer Länge von dreißig und der Breite von zwanzig Stadien aus. So ist jene Gegend beschaffen.“ (Flavius Josephus, Geschichte des Judäischen Krieges. Aus dem Griechischen von Heinrich Clementz, Reclam Verlag, Leipzig 20037 [Drittes Buch, Kapitel 10, Abschnitt 8])

Und hier in Galiläa hat Jesus nicht auf die Menschen gewartet, um mit ihnen in Kontakt zu kommen, sondern hat selbst die Initiative ergriffen, um die ganz neue Existenzweise zusammen mit ihnen zu leben. Denn genau darin liegt der Grund für seine Abkehr von Johannes: In der Zeit nach seiner Begegnung mit ihm muss es zu einer fundamentalen Wende in seinem Leben gekommen sein, zu einem Durchbruch in eine völlig neue Dimension. Während Johannes davon ausging, dass das Kommen Gottes zwar unmittelbar bevor-, aber eben prinzipiell noch aussteht, ist Jesus aufgegangen, dass das Göttliche, das Eigentliche, das Beseligende hier und jetzt erfahrbar ist, und zwar nicht durch die Abkehr von der Welt, sondern gerade durch die Öffnung zu ihr hin. Gerade sie gilt es „anzunehmen wie ein Kind“, um kraft dieses Lebensgefühls und durch diesen Lebensstil des „Reiches Gottes“ teilhaftig zu werden, das heißt, wirklich und wahrhaftig zu leben.

 

Ist es verwunderlich, dass Jesus seiner persönlichen Abkehr von Johannes dem Täufer, die seine ihn überwältigende Entdeckung einer völlig neuen Existenzweise ausgelöst hat, eine geradezu epochale Bedeutung beimaß? Johannes der Täufer steht für den „alten Stoff“, für den „alten Wein“, für eine Weltzeit, die hier mit dem Begriff „das Gesetz und die Propheten“ zusammengefasst wird. Jetzt aber, wo keine bessere beziehungsweise qualitativ völlig andere Zukunft mehr erhofft werden muss, vielmehr echtes, richtiges, nämlich weltverbundenes Leben nichts anderes als Erfüllung, Seligkeit, ja die Teilhabe am „Reich Gottes“ bedeutet, beginnt etwas vollkommen Neues. Gewiss ist das Alte damit nicht einfach vorbei und immer noch virulent – manche Samen fallen noch immer auf unfruchtbaren Boden, „Tote begraben noch immer ihre Toten“ –, und doch ist das einmal, das ein für alle Mal Entdeckte für Jesus nun nicht mehr aufzuhalten. Die Zeitenwende hat sich vollzogen.

Angesichts dessen, wie massiv Jesus das „Neue“ vom „Alten“ absetzt und mit diesem für schlechterdings unvereinbar erklärt, ist nicht auszuschließen, dass die Formel „das Gesetz und die Propheten“ (sie begegnet auch in Matthäus 5,17; 7,12 und 22,40; Lukas spricht in Kapitel 16,29.31 und 24,27 von Mose und den beziehungsweise allen Propheten) nicht nur die vergangene und mit Johannes dem Täufer prinzipiell abgeschlossene Zeitepoche bezeichnet, sondern sich auch auf diese beiden, zur Zeit Jesu wahrscheinlich schon festliegenden Teile der heiligen Schrift des Judentums bezieht (erst später kamen als dritter Teil die „Schriften“ hinzu).

Claus Petersen

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