Kapitel 31

 

RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT

DIE WELT-RELIGION JESU

BASISKURS BASILEIOLOGIE

 

 

 

Folgerungen, Konkretionen, Vertiefungen:

Wählt das Leben!

 

Wahrscheinlich haben Sie diese Karikatur schon einmal gesehen: Ein Räuber fordert mit vorgehaltener Pistole: „Geld oder Leben!“, worauf die bedrohte Person antwortet: „Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie diese interessante Frage stellen.“

Aber kennen Sie auch diesen Witz? Mein Onkel ist ein äußerst geiziger Mensch. Einmal stand ein Straßenräuber mit vorgehaltener Waffe vor ihm und rief: „Geld oder Leben!“ Mein Onkel sagte nichts. Da schrie der Räuber wieder: „Geld oder Leben!“ Aber mein Onkel sagte wieder nichts. „Verdammt noch mal“, brüllte der Räuber, „Ich sag das nicht zum Spaß. Geld oder Leben!“ Worauf mein Onkel antwortete: „Ich denke immer noch darüber nach.“

Es ist tatsächlich schwer nachzuvollziehen, warum sich so viele Menschen offenbar nicht für das Leben entscheiden können. Tatsächlich ist doch – auf den Punkt gebracht – dies die Alternative: Geld = Selbstbezogenheit = Tod / Leben = Weltverbundenheit = Teilhabe am „Reich Gottes“, noch einmal vereinfacht: Geld / Welt. Entweder ist die Welt ein Objekt, ein Gegenstand der Aneignung, wird sie privatisiert, wird sie gegen Geld zum Privateigentum, das wiederum Geld abwirft, oder sie gehört allen Menschen, sie gehört zu allen Menschen, wir nehmen sie wahr als den Quellgrund unseres Lebens, allen Lebens.

Vor allem Chile, das Geburtsland und Musterland des Neoliberalismus, hat das Erstere zum Prinzip gemacht: „Die alte Verfassung setzt den Vorrang privater Dienstleistungen vor allen öffentlichen. Nur wenn kein privates Unternehmen Dienstleistungen anbietet, darf die öffentliche Hand überhaupt aktiv werden. Die Privatisierung alles Öffentlichen von der Bildung über die Rente bis zum Gesundheitswesen hat quasi Verfassungsrang. So ist in Chile nicht nur das Wasser von allen seinen Quellen an privatisiert […], sondern auch die gesamten Fischbestände des Landes. 4.000 Kilometer Küste ist in privater Hand.“ (Katja Mauer und Mario Neumann, Von den Barrikaden zur neuen Verfassung, Medico-Rundschreiben 02/2022, S. 40–43, Zitat S. 42)

Durch die neue Verfassung, die am 4. September 2022 abgelehnt wurde, sollte dieses Prinzip endgültig der Vergangenheit angehören. Niemals ist die Welt eine Sache, niemals ist sie ein Gegenstand, niemand ist berechtigt, sich ein Stück der Welt „unter den Nagel zu reißen“ (= „etwas einstecken/an sich nehmen, das einem nicht gehört und man nicht hätte nehmen sollen“) und zu seinem Privateigentum zu erklären. Man darf sich die Welt von niemandem rauben lassen. Sie ist unser aller Lebensraum, unsere Allmende, unser aller Common und muss es bleiben. Wir leben von ihr und mit ihr. Dies wahrzunehmen bedeutet „Leben“, diese Wahrnehmung zu blockieren bedeutet „Tod“.

Wie wir bereits festgestellt haben, gilt letzteres für Jesus in erster Linie für die Reichen, für die, die der Welt nicht lediglich das entnehmen, was sie brauchen (Nahrung, Kleidung, Wohnung), sondern die ein Stück „Welt“ besitzen, als ihr privates Eigentum betrachten. Die Welt ist für sie zum Objekt geworden. Damit haben sie ihre eigenen Wurzeln gekappt. Sie haben keinen Anteil an dem, was Jesus „Reich Gottes“ nennt. Zu versuchen, sich von der Welt zu emanzipieren, sich „aus einer die eigene Entfaltung hemmenden Abhängigkeit zu lösen, sich selbstständig, unabhängig machen“ – so die Erklärung des Begriffs „emanzipieren“ im Duden –, negiert genau das, was Menschsein ausmacht: unsere existenzielle Weltverbundenheit.

Noch scheint die Todeskultur übermächtig, geradezu allmächtig zu sein. Unendlich viel Geld, gigantische Summen fließen ihr zu und erhalten sie aufrecht, werden in Werkzeuge des Todes investiert – zum Beispiel in Form von Steuern auch das von uns erwirtschaftete Kapital, mit anderen Worten: die Früchte unserer Arbeit –, investiert in Produktionsweisen und Energiearten, die die Lebensgrundlagen der Erde zerstören, in Militär und Rüstung, in sogar in den Weltraum ausgreifende Formen einer Mobilität, die sich auf Straßen und Bahnen des Todes bewegt.

Wie zaghaft noch sind die Zeichen eines neuen Zeitalters der Lebendigkeit. Und doch: „Das Grün bricht aus den Zweigen“ (aus dem Gedicht „Ermutigung“ von Wolf Biermann). Mit der Welt-Religion Jesu in Herz und Hand wird die Neuorientierung unumkehrbar sein. „Du aber mach das Reich Gottes bekannt!“ Nur wer mit der Welt existiert, lebt wahrhaft und hat damit Anteil am „Reich Gottes“. Dieses „ereignet sich“ im Zuge einer weltverbundenen Existenzweise. Dass sie um sich greift, darauf kommt darauf es jetzt an, dass sie andere ansteckt, dass sie aus sich selbst heraus Anklang und Zustimmung findet, dass viele andere – um im Bilde zu bleiben – schließlich mit einstimmen. Bekannt gemacht aber wird sie am nachhaltigsten durch eigenes, noch besser: durch gemeinsames Vorleben, verbunden mit der Bereitschaft, Konflikten mit Vertreter*innen und Verteidiger*innen des Alten nicht aus dem Weg zu gehen.

Viele der schon behandelten Jesusworte charakterisieren eine solch weltverbundene Existenzweise. Keineswegs läuft sie auf Askese hinaus, keineswegs ist sie gleichzusetzen mit Einschränkung und Verzicht, sondern ganz im Gegenteil: Sie erst erschließt wirkliches, uneingeschränktes Leben, Leben im vollen Sinn. Dies macht gleich das erste Jesuswort im Markusevangelium klar: Jesus lehnt den religiösen Brauch des Fastens ab, den zeitweisen Verzicht auf Nahrung, gilt es doch, ein „Hochzeitsfest“ zu feiern, das Fest des Lebens. Man nannte ihn – sicher völlig übertrieben, eher ein Ausdruck der Fassungslosigkeit – einen „Fresser und Weinsäufer“, weil er offensichtlich dem gemeinsamen Essen und Trinken „religiösen“ Rang zuerkannte, weil er diesem Lebensvollzug einen „Reich-Gottes-Charakter“ zusprach.

Bei kaum einem anderen ganz alltäglichen Vorgang werden das menschliche Miteinander und zugleich die Verbundenheit mit der Erde so konkret erlebbar, und zwar nicht nur mit den Menschen am Tisch, sondern auch mit all denen, die die Früchte der Erde angebaut, geerntet, verarbeitet und für die Mahlzeit zubereitet haben. Eine gemeinsame Mahlzeit ist das Fest der Weltverbundenheit schlechthin – und als ein solches sollten wir sie, wo immer möglich, denn auch gestalten. Man muss sich dafür Zeit nehmen, dieses Netz des Lebens wahrnehmen, das uns hält. Und vielleicht wird man dabei, um dieses ganz Besondere und so außerordentlich Wertvolle zu benennen, jenen Begriff „Reich Gottes – jetzt!“ zumindest gedanklich assoziieren oder auch jenes „Buen Vivir“, jenes „Ubuntu“, um die geschichtliche Dimension und weltweit ganz ähnliche Erfahrungen dessen zu realisieren, was gerade jetzt, in diesem Augenblick wieder geschieht, und seine revolutionäre weltverändernde und welterneuernde Kraft zu verspüren. Wenn dies das Leben ist, und wenn es dies für immer mehr Menschen ist oder sein kann, dann wird die Welt, dann kann sie gar nicht so bleiben, wie sie ist.

Möglicherweise kann dieses „Neue“, dieses „Andere“ an keinem Tag so intensiv erfahren werden wie am siebten Tag der Woche. Noch gibt es, zumindest grundsätzlich, diesen besonderen, dem Kommerz, dem Leistungs- und Konkurrenzprinzip noch nicht gänzlich unterworfenen Tag. Er muss es bleiben, er muss uns Menschen erhalten bleiben, für die er „da ist“, als eine allen offenstehende Möglichkeit, richtig zu leben und dieses richtige Leben zu feiern. Von diesem Tag aus könnte sich der Alltag, könnte sich der Arbeitsalltag verändern, könnte von dem Miteinander und Füreinander bestimmt sein, das die neue und andere Existenzweise grundlegend ausmacht.

Ganz im Zentrum stünde nun das Wohl der Kinder. Sie zeigen uns – ganz absichtslos und völlig unvermittelt –, wie diese weltverbundene Existenzweise „geht“. Alles kommt darauf an, dass sie möglichst lange nicht-entfremdet leben können. Es gilt in allererster Linie, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und zu erfüllen, nicht aber umgekehrt! Wie sehr können Kinder uns bereichern! Sie sind die schwächsten Glieder in einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft, das sehen wir jeden Tag. Stünden sie aber im Zentrum, würden wir ganz andere Prioritäten setzen. Lasst uns damit beginnen!

Nichts aber kennzeichnet einen weltverbundenen Lebensstil, das richtige, das gute Leben oder eben auch die Existenzweise im „Reich Gottes“ klarer und wohl auch überzeugender als die Armut im jesuanischen Sinn. Wenn „leben“ bedeutet, in lebendigem, dauerhaftem Kontakt mit der Welt zu sein, wird man nur das gebrauchen, verbrauchen, nutzen, was für ein gutes, würdevolles Dasein nötig ist – und darauf vertrauen, dass dies, wenn irgend möglich, immer zur Verfügung steht. Jedes Zuviel ist dem Weltzusammenhang nicht gemäß, der aber das Leben, das gute, das richtige Leben gerade ausmacht. Der Reichtum zerreißt ihn und zerstört ihn.

Den Weltzusammenhang verloren zu haben, neben oder gar gegen die Welt zu existieren, das ist der Tod. Immer zusammen mit der Welt da zu sein, zusammen mit all den Menschen, wer auch immer sie sind, für sie zu sorgen und sich für sie einzusetzen, wo auch immer sie leben, da zu sein zusammen mit den Tieren, deren Lebensräume erhalten und nicht zerstört werden dürfen, den Landtieren, den Vögeln, den Fischen, mit all den Insekten, Schmetterlingen, Käfern, Libellen, all den Bäumen und Büschen, Blumen und Gräsern, der Erde, der Luft, dem Wasser, der Atmosphäre, dem blauen Himmel bei Tag, dem sternenübersäten in der Nacht, voller Achtsamkeit und rücksichtsvoll dieses wahre Lebenselixier nie mehr missen wollend – das ist das Leben, das Leben in seiner ganzen Fülle. Jeder Augenblick ist so unendlich kostbar. Das Leben wird zum Fest.

All das ist eine, ja die Alternative zu dem welt- und selbstzerstörenden Lebenskonzept, dem – nicht alle, aber doch – so viele und einflussreiche Menschen folgen, das sich anbietet, als ob es das einzig in Frage kommende sei, und dessen Vertreter*innen ihre Versuche nicht so bald einstellen werden, die Skeptiker*innen doch noch auf ihre Seite zu ziehen. Auch der Kapitalismus ist eine Art Religion, verkauft sich mit einigem Erfolg als solche. Für so manche ist sie das Leben. Mit der Jesusbotschaft aber ist eine völlig neue, eine ganz andere Religion ans Licht gekommen: eine „Welt-Religion“. Sie entspricht uns, ohne uns manipulieren zu müssen. Sie ist das Leben, jene der Tod.

„Geld oder Leben?“ Müssen auch wir noch länger darüber nachdenken wie jener geizige Onkel? „Wählt das Leben!“, lautet der Titel dieses Kapitels. Ergreifen wir es, damit es um sich greifen kann! Machen wir die Welt-Religion, 2022 Jahre nach der Zeitenwende, endlich bekannt! Leben wir sie!

Claus Petersen

Eine PDF-Datei dieses Kapitels finden Sie hier.


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