Kapitel 30

RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT

DIE WELT-RELIGION JESU

BASISKURS BASILEIOLOGIE

 

 

 

„…du aber mach das Reich Gottes bekannt!“

Todeskultur versus Zeitalter des Lebendigen (Matthäus 8,22 / Lukas 9,60)

Das zwölfte der 21 Jesusworte

 

Und wieder ein Jesuswort, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Es geht um nichts weniger als um Leben und Tod – und um das „Reich Gottes“, mit dem hier mit Sicherheit etwas hier und jetzt Gegenwärtiges und nicht etwas erst Zukünftiges gemeint ist. Sowohl die drastische Bildsprache als auch und vor allem ganz offensichtlich die Präsenz des „Reiches Gottes“, die bekanntgemacht werden soll, sind klare Indizien, dass diese Aufforderung mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich auf Jesus selbst zurückgeht:

 

Lass die Toten ihre Toten begraben;
du aber mach das Reich Gottes bekannt!

 

Lediglich der erste Teil dieses Wortes („Lass die Toten ihre Toten begraben“) wird sowohl von „Matthäus“ als auch von „Lukas“ mit im Griechischen identischen Worten überliefert. In beiden Evangelien geht ihm die Bitte einer Person um die Erlaubnis voraus, zunächst hingehen und den Vater bestatten zu dürfen, bevor man sich Jesus anschließt. Bei „Matthäus“ reagiert Jesus mit der Aufforderung: „Folge mir nach und lass die Toten ihre Toten begraben!“ Im Lukasevangelium setzt die Antwort Jesu gleich mit diesem Bildwort ein, worauf die Aufforderung folgt: „Du aber geh hin und mach das Reich Gottes bekannt!“

Einiges spricht dafür, dass dieser zweiteilige Satz im Lukasevangelium ein ursprünglicheres Überlieferungsstadium repräsentiert als die Version im Matthäusevangelium. Wieder, wie schon in den Jesusworten bei Markus (2,21–22a; 2,27; 10,25; 10,43b–44), begegnet uns die Stilform des Parallelismus membrorum, also die für die hebräische Poesie charakteristische enge Beziehung zweier aufeinander folgenden und inhaltlich eng miteinander verbundenen Satzglieder, und zwar hier als sogenannter antithetischer Parallelismus: Die einen bestatten ihre Toten, der andere macht das Reich Gottes bekannt, dort der Tod, hier das Leben, hier der Lebendige, Aktive, dort die im Grunde selbst schon Toten.

Das Bildwort wäre demnach ursprünglich rein metaphorisch gemeint gewesen. Erst später verstand man es nicht mehr bildhaft, sondern im wörtlichen Sinn und konstruierte daraus jene Bitte um Aufschub, um vorher, bevor man sich Jesus anschließt, noch den gestorbenen Vater begraben zu können. Schon allein die Tatsache, dass die lukanische Fassung durchaus die Vermutung nahelegt, dass die beiden Versteile ursprünglich für sich allein standen, also keinen Bezug zu einer konkret geplanten Handlung beinhalteten, spricht dafür, dass dieser Text zumindest die ältere Überlieferungsstufe repräsentiert. Das Matthäusevangelium, das das Bildwort wortwörtlich auffasst, nimmt deshalb den zweiten Teil des Jesusworts gar nicht mehr auf. Dieser ursprüngliche Auftrag Jesu ist jetzt ganz in der Nachfolge Jesu aufgegangen. Diese Vorstellung jedoch spiegelt eher die nachjesuanische Zeit wider, in der das Konzept „Nachfolge Jesu“ zum Kennwort christlichen Lebens wurde, während die Verkündigung der Gegenwart des Reiches Gottes in den Hintergrund trat. – „Lukas“ dürfte lediglich durch die Einfügung des „geh hin und“ zwischen „aber“ und „mach“ nachträglich einen wörtlichen Bezug zu der vorherigen, wahrscheinlich erst nachträglich konstruierten Bitte hergestellt haben, zunächst „hingehen“ und den Vater bestatten zu dürfen.

„Lass die Toten ihre Toten begraben.“ Jesus will mit diesen überaus drastischen Worten – ähnlich wie mit dem kompromisslosen Wort vom Kamel und dem Nadelöhr – zum Ausdruck bringen, dass alle, die keinen Zugang zum „Reich Gottes“ finden, wie tot sind, dass ihre Art zu „leben“ in keiner Weise nachahmenswert ist. Es ist ein kaum mehr zu überbietender Gegensatz: Hier der Tod, dort das „Reich Gottes“, hier die Toten, die „ihre Toten begraben“, dort ein Mensch, der aufgefordert wird, die neue, ganz andere Existenzweise bekannt zu machen, das richtige, das gute, das wahre Leben. Außerhalb des „Reiches Gottes“, also außerhalb einer intakten Weltbeziehung zu existieren, ist kein wirkliches Leben, diese Menschen sind wie tot, sie behandeln einander wie Tote, bringen einander ins Grab. Wer hingegen das Leben, das wirkliche Leben gefunden hat, wird nun alles daransetzen, dass es sich auch möglichst vielen anderen Menschen erschließt. Dass das falsche Leben, das eigentlich gar kein Leben ist, gleichzeitig weiterläuft, soll ihn nicht verunsichern. „Reich Gottes“ – nur darauf kommt es jetzt an, darauf läuft jetzt alles hinaus. Es ist darum im griechischen Text der Lukas-Fassung das letzte Wort, wörtlich übersetzt: „Du aber mach bekannt das Reich Gottes!“ Diese Satzstellung gibt dem entscheidenden Begriff das gebührende „Achtergewicht“.

Denn jetzt gilt es, das Neue auch laut werden zu lassen, es sichtbar zu machen, es nicht zu verstecken: das Leben als die eine Existenzweise, die Erfüllung schenkt, die denjenigen, die sie praktizieren, immer wieder „rückmeldet“, dass es so gut und richtig ist. Nicht ums Predigen, ums Lehren, um Überredung wird es gehen, sondern um gelebte Praxis. Das, was Jesus „Reich Gottes“ nennt, ist vorzuleben, damit es möglichst viele erfasst, vielleicht nach dem Motto: „Rede nur, wenn du gefragt wirst, aber lebe so, dass man dich fragt.“ Möglichst viele Menschen, letztlich sie alle sollen den richtigen, den guten Weg jetzt weitergehen beziehungsweise die Wende vom Tod zum Leben nun ebenfalls vollziehen. Die einen, die bislang eher zu den noch Unterentwickelten gerechnet oder als Verlierer angesehen wurden – zum Beispiel die Kinder, zum Beispiel diejenigen, die nicht erste sein und auch nicht möglichst ganz oben stehen wollen –, gilt es zu bestätigen und zu stärken. Die anderen, die noch das Alte für einzig möglich halten und sich längst mit ihm abgefunden haben, sollen endlich erfahren, dass sie von falschen Voraussetzungen ausgegangen sind, dass sich das längst Abgeschriebene jetzt Bahn bricht, dass letztlich niemand und nichts es wird aufhalten können. Ihnen allen gilt es mitzuteilen, dass sich die Zeiten geändert haben. Die Maßstäbe haben sich gegenüber dem Bisherigen völlig verschoben, ja auf den Kopf, besser: endlich vom Kopf auf die Füße gestellt. Der Wendepunkt ist die Erfahrung, hier und jetzt am „Reich Gottes“ teilzuhaben. Dieser Wendepunkt will Gestalt annehmen.

Claus Petersen

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