Kapitel 27

 

RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT

DIE WELT-RELIGION JESU

BASISKURS BASILEIOLOGIE

 

 

 

Folgerungen, Konkretionen, Vertiefungen:

Genug – ein Inbegriff des richtigen Lebens

 

„besser zu viel als zu wenig“                       „Besser nicht genug als zu viel“

Duden 28. Auflage, S. 1289, Sp. 1             Aus einem Eine-Welt-Laden in Norden, Ostfriesland

 

Ihr könnt viel von uns lernen.
Wir Indigenen, egal ob im Pazifik, in Südamerika oder in Lappland,
sehen uns als Teil der Natur, wissen, dass wir von ihr abhängig sind.
Deswegen würden wir nie auf die Idee kommen, die Natur auszubeuten.
Wir nehmen immer nur so viel, wie wir zum Leben brauchen.

James Bhagwan, Generalsekretär der Pazifischen Kirchenkonferenz (PCC),
auf der 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) vom 31. August bis 8. September 2022 in Karlsruhe,
zitiert aus: Eine Welt. Magazin aus Mission und Ökumene, Heft 4 (Dezember 2022–Februar 2023), S. 33

 

Nimm nur, was du brauchst. Ernte so, dass du möglichst wenig Schaden anrichtest.
Nutze es respektvoll. Verschwende nie, was du genommen hast. Teile.
Hinterlasse ein Gegengeschenk für das, was du genommen hast.
Erhalte die, die dich erhalten, und die Erde wird für immer bleiben.

Robin Wall Kimmerer, indigene US-Autorin – sie ist Mitglied der „Citizen Potawatomi Nation“ –
und Biologie-Professorin, in ihrem Buch „Gefochtenes Süßgras. Die Weisheit der Pflanzen“ (Aufbau Verlag, Berlin 2021)

 

Im Schwedischen gibt es das Wort „lagom“. Es bedeutet so viel wie „gerade richtig“,
nicht zu viel und nicht zu wenig, die ideale Balance.
So lässt Astrid Lindgren in ihrem Roman „Michel aus Lönneberga“
Emils Mutter sagen, als der Vater danach fragt, wie sie die Fleischklößchen
für das Ortsfest mache: „Lagom stora, lagom runda och lagom bruna“,
auf Deutsch; „So groß, wie sie sein müssen, so rund,
wie sie sein müssen, und so braun, wie sie sein müssen.“
Angeblich geht der Ausdruck auf den Vorgang eines herumgehenden
Trinkhorns oder Bechers zurück, der genau so viel enthalten soll,
dass jeder in der Runde einmal und gleich viel davon trinken kann.

 

„Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug.“ Dieser vielzitierte Satz wird dem griechischen Philosophen Epikur (um 341–271/270 vor der Zeitenwende) zugeschrieben. Ich vermute, dass es sich um den Versuch einer prägnanten und einprägsamen Zusammenfassung seines Hauptlehrsatzes XV handelt: „Der naturgemäße Reichtum ist begrenzt und leicht zu beschaffen; Reichtum nach dem Maßstab leerer Einbildung verliert sich ins Unermessliche.“ Mit dem „naturgemäßen Reichtum“ meint Epikur wahrscheinlich nichts anderes als das „Genug“ beziehungsweise die „Armut“ im jesuanischen Sinn. Aber er kennt und benennt auch das andere: Das prinzipiell unbegrenzte Streben nach immer mehr.

Offensichtlich handelt es sich um zwei vollkommen unterschiedliche Existenzweisen. Die eine, die des Genug, ist nicht nur unproblematisch und naturgemäß, sondern Ausdruck einer richtigen, guten, ja „beseligenden“ Lebensweise. Die andere jedoch, die des Zuviel und Immer mehr, „verliert sich“ nicht nur, schließt Erfüllung und wahre Lebensfreude, wahren Lebensgenuss nicht nur aus, sondern zerstört darüber hinaus die Grundlagen unserer Existenz selbst. Theoretisch müssten dieser Lebensweise dringendst Grenzen gesetzt werden, und das geschieht ja auch. Doch so unwiderleglich ihre Begründungen auch sein mögen – sie werden so gut wie überhaupt nicht eingehalten. Sie scheinen mit jener Existenzweise des Zuviel und Immer mehr einfach nicht kompatibel zu sein.

Dabei wurden wir vor 50 Jahren – unüberhörbar für alle – an die Grenzen des Wachstums erinnert, an die „Limits of Growth“, so der Titel des von dem Wirtschaftswissenschaftler Dennis L. Meadows, seiner Frau, der Umweltwissenschaftlerin Donella Meadows und dem Physiker Jørgen Randers verfassten, am 2. März 1972 auf einer internationalen Konferenz in Washington, D.C zur Diskussion gestellten und wenig später in Buchform veröffentlichten Berichts des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Seine zentrale Schlussfolgerung lautet: Wenn die seinerzeitige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden im Laufe der nächsten hundert Jahre die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde erreicht.

Heute – ein halbes Jahrhundert später – werden es wohl nicht einmal mehr 50 Jahre sein. Jedes Jahr berechnet die US-Organisation „Global Footprint Network“ (GFN) den „Earth Overschoot Day“, den Erdüberlastungstag, den Tag, von dem an die Menschheit die natürliche Grenze, die ihr das Ökosystem Erde setzt, überschreitet, sie ihm mehr entnimmt, als dieses jährlich an natürlichen Ressourcen erneuern und an Treibhausgasen aufnehmen kann. Im Jahr 2021 fiel er auf den 29. Juli, das früheste Datum seit Beginn der Überlastung des Planeten in der 1970er Jahren. Wäre der Ressourcenverbrauch der Weltbevölkerung so groß wie in jenem Jahr in Deutschland, dann hätte sie diese Grenze schon bis 5. Mai, im Jahr 2022 bereits am 4. Mai erreicht.

Auch wenn manche ein gewisses Unbehagen überkommt, und sie, etwa angesichts der Grenzenlosigkeit des Reichtums, zum Teil sogar öffentlich ihre Bedenken äußern und selbst eine hohe beziehungsweise sehr viel höhere Versteuerung sehr großer Vermögen beziehungsweise Erbschaften fordern – normalerweise werden Grenzen nicht respektiert, Abgasgrenzwerte, wie wir inzwischen wissen, nicht einmal dann, wenn sie sogar vorgeschrieben sind.

Mag die Begrenzung etwa des gerade noch zulässig erscheinenden Treibgasausstoßes auch noch so gut begründet, ja ihre Notwendigkeit offensichtlich und vollkommen nachvollziehbar sein: Die meisten Menschen halten sich nicht daran, akzeptieren sie nicht. Sie dienen ihnen nicht als ganz selbstverständlich einzuhaltender Maßstab ihres Konsum-, Mobilitäts- beziehungsweise ihres gesamten Verbrauchsverhaltens. Uns von außen präsentierte Warnhinweise berühren uns nicht wirklich, lassen sich ohne Weiteres ausblenden. Ihre Rationalität, ja Unabweisbarkeit bleiben weitgehend ohne Folgen. Sie sind nicht in der Lage, die Existenzweise des Zuviel abzubremsen, einzuschränken oder gar durch eine ganz andere zu ersetzen.

Wie aber kann trotzdem die nicht nur notwendige, sondern vor allem einzig beglückende, ja „beseligende“ Existenzweise des Genug gelingen? Woher bezieht sie ihre Energie? Wo liegen ihre Quellen?

Überlegen wir einmal, wann wir es vielleicht zum ersten Mal erfahren haben könnten, dieses wunderbare: „Es ist alles da, aber nun ist es genug.“ „Jetzt brauche ich nichts mehr.“ „Ich bin satt.“ Möglicherweise haben wir es ganz existenziell, als noch ganz, ganz kleiner Mensch erlebt, als wir „gestillt“ wurden, wie es so schön heißt, als wir von der gefühlt unbegrenzten Fülle der zur Verfügung stehenden Muttermilch so viel getrunken haben, bis es gereicht hat, bis unser Bedürfnis nach Nahrung vollkommen befriedigt war. In eine solche Welt sind wir hineingeboren, in eine Welt der unbegrenzten Fülle, die uns deswegen immer „sättigen“ wird. Man erfährt sie als eine solche immer dann, wenn es „genug“ ist. Nur dann genießt man sie, wenn man ihr genau das entnimmt, was man braucht. Wenn man meint, ihr mehr und immer mehr entnehmen zu müssen, weil vielleicht die eben geschilderte Erfahrung fehlt oder wir uns vom Mainstream mitreißen lassen, ist sie immer und prinzipiell eine Welt des Zuwenig – und man selbst ist ein Teil von ihr. Man bleibt ihr, das heißt, dieser Existenzweise – trotz aller eigentlich dringend einzuhaltender Begrenzungen – verhaftet und ausgeliefert.

Man entrinnt ihr nur oder bleibt gegen eine Infektion mit ihr nur dann immun, wenn man sich an solche Erfahrungen des Genug erinnert und sie immer aufs Neue wahrnimmt, wenn sie sich ereignen. Es ist doch ein Genuss, sich satt gegessen zu haben, also in einer Welt zu leben, die uns all dies aus ihrer Fülle heraus zur Verfügung gestellt hat. Sind wir nicht eben dann mit der durch ihre Kugelgestalt als geradezu unendlich empfundenen Fläche verbunden, wenn wir für uns selbst genau den Raum auf ihr beanspruchen, der uns entspricht – nicht weniger, aber auch nicht mehr? Für den, der sich ein immer noch größeres Grundstück wünscht, ist die Welt immer zu klein und er selbst nie wirklich in ihr „aufgehoben“. Können wir jemals in ihr zu Hause sein, wenn wir möglichst viel von ihr besucht und gesehen haben, und nicht nur dann, wenn wir unseren eigenen Lebensraum immer wieder erkunden und so mit ihm – und eben deshalb auch mit der ganzen Welt – in Verbindung bleiben? Darauf, dass der Reichtum unsere Weltverbundenheit zerstört und nur das Nicht-mehr-als-genug ihr entspricht und sie aufrechterhält, ist ja schon eingehend hingewiesen worden.

Anders als Epikur, der beide Existenzweisen mit dem Begriff „Reichtum“ kennzeichnet, unterscheidet Jesus sie auch terminologisch: Die eine, die des Genug, ist die der Armen, die andere, die des Zuviel, die der Reichen. Und die Bezugsgröße für das richtige Leben ist nicht, wie bei Epikur, die Natur, die, sofern der Begriff nicht näher definiert wird, auch die andere nicht ausschließt (viele behaupten ja, dass gerade sie unserer Menschennatur entspricht), sondern das „Reich Gottes“. Damit aber kommt die Welt ins Spiel. Sie stellt offensichtlich seine, Jesu Bezugsgröße dar, allerdings in einem sehr spezifischen Sinn: Es ist nicht die Welt, die uns gegenüber ist, die man sich anzueignen sucht, von der man möglichst viel sein Eigen nennen möchte. Vielmehr ist es die Welt, die uns von Anfang an zugetan ist, die alles, was für uns nötig ist, bereithält, eine Welt, zu der wir immer schon voll und ganz gehören und sie zu uns. Wir sind nicht ohne sie, und wer sie als eine solche wahrnimmt, dessen Existenzweise wird immer auf sie bezogen sein. Und eben diese Verbundenheit äußert sich im Genug, und das Genug wiederum ist es, dem die „Seligkeit der Weltverbundenheit“ entspringt.

Dieses Genug aber muss immer und für jeden Menschen gewährleistet sein. Genau dies besagt ein „Reich-Gottes-Wort“ im Alten Testament, dem der Exkurs 6 gewidmet ist.

Claus Petersen

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