Kapitel 25

 

RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT

DIE WELT-RELIGION JESU

BASISKURS BASILEIOLOGIE

 

 

 

Folgerungen, Konkretionen, Vertiefungen:

Ohne Konkurrenz und Wettbewerb herrschaftsfrei miteinander leben

 

may you always do for others and let others do for you
[mögest du dich immer für andere einsetzen und lass andere sich für dich einsetzen]

Aus dem Lied „Forever Young“ von Bob Dylan

 

„Ich halte ein positives Menschenbild für realistisch.
Es ist etwas, das tief in uns verankert ist.
Der Homo communis ist unsere eigentliche Natur.“

Carmen Eckardt, Regisseurin des Films „Homo communis“

 

Nichts macht andere Gartenbesitzer glücklicher
als die Besichtigung eines Gartens, der dem ihren deutlich unterlegen ist.

Viscount Antony Lambton, zitiert aus „Der literarischen Gartenkalender“,
Schöffling & Co., 2022

 

Das Jesuswort vom Groß-sein-Wollen und vom Dienen ist in der Tat eine Rückerinnerung. Es wurde bereits darauf hingewiesen beziehungsweise daran erinnert, dass wir alle nicht als Egoisten, sondern als kooperative Wesen geboren worden sind. Kinder wollen miteinander und nicht gegeneinander spielen. Karrieredenken, Leistungsbewertung, etwa durch Noten oder andere „Rankings“, durch irgendwelche Statussymbole zum Beispiel, sind einer solchen Daseinsweise völlig fremd, ja geradezu absurd.

 

Spielen – kooperativ und nicht, um zu gewinnen

 

Aber der Entfremdungsprozess lässt meist nicht lange auf sich warten. Angeblich müssen Kinder lernen, verlieren zu können. Dabei wissen wir: Sie können es nicht und wahrscheinlich wissen sie noch, dass sie es auch nicht sollen. So früh wie nur möglich wird dann alles darangesetzt, dass sie dieses richtige Grundgefühl ablegen und verlernen. Nicht kooperative Spiele, sondern Gewinnspiele beherrschen den Markt. Allerdings scheint die Zahl der Hersteller zu steigen, die zumindest darauf setzen, dass Spieler nur im Team gewinnen, wie etwa aus dem Artikel „Beliebte Gesellschaftsspiele: Teamgeist statt Schadenfreude“ von Alexander Pfaehler hervorgeht. Im Jahr 2021 waren sowohl das Spiel des Jahres („MicroMacro: Crime City“ von Johannes Sich) als auch das Kennerspiel des Jahres („Paleo“ von Peter Rustemeyer) kooperative Spiele. Die Kooperation, diese zweite Form des Spielens, werde zwar ständig vernachlässigt, schreibt Alina Schwermer in ihrem 2022 im Verlag „Die Werkstatt“ erschienenen Buch „Futopia. Ideen für eine bessere Fußballwelt“. „Aber es gibt eine Bewegung in diese Richtung. Zunehmend erleben auf dem Markt für Brettspiele solche Spiele Zulauf, wo Spieler:innen nicht gegeneinander antreten, sondern Abenteuer zusammen lösen.“ (S. 412f.)

„Das kooperative Spielprinzip macht insbesondere mit Kindern großen Spaß. Wut und Tränen über gemeine Züge der Geschwister gehören somit der Vergangenheit an und man kann sich stattdessen gegenseitig helfen das gemeinsame Ziel zu erreichen.“ (Aus dem Artikel „Labyrinth mit Eigenleben. Ein Spieleklassiker von 1986 erscheint in einer kooperativen Neuauflage“ in der Frankfurter Rundschau vom 2. Dezember 2022 über das im Ravensburger Verlag erschienene Spiel „Labyrinth“)

Beim Spielen sollte man sich miteinander freuen und Spaß haben, etwa wenn bei der „Stillen Post“ das Wort, das man seinem Nachbarn, seiner Nachbarin ins Ohr geflüstert hat, völlig verändert bei der letzten Person der Runde ankommt, oder wenn bei der „Reise nach Jerusalem“ nicht nach jeder Runde ein Kind ausscheiden muss, weil inzwischen ein Stuhl entfernt worden ist und es nicht mehr rechtzeitig einen Platz gefunden hat, sondern alle Kinder im Spiel bleiben und versuchen müssen, auf der nach und nach immer kleineren Anzahl der verbleibenden Stühle alle miteinander Platz zu nehmen. Eine kooperative Variante des Memory-Spiels wurde ja bereits erwähnt.

Ein Aspekt, der in den Spielen der Gesellschaften von Jägern und Sammlern, aber auch in den kleinsten Bauerngesellschaften regelmäßig zutage tritt, ist das Fehlen von Konkurrenz oder Wettbewerben. Während es in Nordamerika zu viele Spielen dazugehört, dass man Punkte zählt und gewinnt oder verliert, kommt es bei Jägern und Sammlern nur selten vor, dass Leistungen gemessen werden und ein Sieger festgestellt wird. Stattdessen gehört es in Kleingesellschaften sehr häufig zu den Spielen, dass man teilt und die Kinder damit auf das Leben der Erwachsenen vorbereitet, in dem das Schwergewicht ebenfalls auf dem Teilen liegt, während man Konkurrenz möglichst zu verhindern versucht. (Jared Diamond, Vermächtnis. Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012, S. 240)

 

Von der Kooperation zur Konkurrenz – von der Konkurrenz zur Kooperation

Eine Mutter erzählte mir kürzlich Folgendes: Sie war mit ihrer Tochter auf einen Spielplatz gegangen. Ein Junge, etwa so alt wie das Mädchen, saß auf einer Schaukel und schwang sich hin und her. Das Mädchen lief gleich zu ihm, setzte sich auf die Schaukel daneben, und die beiden schaukelten eine Weile nebeneinander her, nahmen dann schnell Kontakt auf, unterhielten sich und hatten ihren Spaß. Der Vater des Jungen war etwas abseits von den Schaukeln mit dem kleineren Bruder des Jungen auf der Schaukel beschäftigt. Jetzt wandte er sich wieder seinem anderen Sohn zu und rief: „Gut machst du das. Du bist schon viel höher als das Mädchen.“ Schon war es mit dem friedlichen Miteinander vorbei. Der Junge sah seinen Vorteil und ließ ihn das Mädchen spüren. Bisher hatten die beiden überhaupt nicht darauf geachtet, wie hoch sie kamen und ob der oder die andere es ebenso hoch schaffte. Jetzt aber entbrannte ein verbissener Kampf. Von dem fröhlich-unbeschwerten Miteinander war nichts mehr geblieben. Die beiden wurden zu Konkurrent:innen. Das Mädchen konnte nicht mithalten. Und so endete das, was so gut begonnen hatte, in Streit, Enttäuschung und mit vielen Tränen. Unglück statt Glück, Fluch statt Seligkeit.

Hatte hier ein Erwachsener die beiden so begeistert kooperierenden Kinder zu Konkurrent:innen gemacht, kam es im Laufe eines Konkurrenzspiels, das Erwachsene angeboten hatten, durch die Intervention eines Kindes zur Kooperation. Ich erfuhr durch die Mitarbeiterin eines Stadtteilhauses davon:

„Wir spielten nachmittags während des Offenen Treffs für Kinder verschiedene Spiele mit Bällen. Bei einem Spiel wurden die Kinder in zwei Mannschaften aufgeteilt. Sie sollten sich in zwei Reihen hinter einem Eimer aufstellen und dann von der jeweils gleichen Entfernung möglichst viele Bälle in den Eimer werfen. Welche Mannschaft am häufigsten in den Eimer traf, hatte gewonnen. Einige Kinder warfen schon recht gut, für andere war es sehr frustrierend. Da schnappte sich einer der älteren Jungs den Eimer und fing mit diesem die Bälle der Kinder auf. Er machte das hervorragend und alle Kinder trafen plötzlich den Eimer. Die Mannschaften lösten sich sogleich auf und es wurde ein riesen Spaß, die Bälle in den Eimer zu werfen.“

 

Gewinnspiele verstärken eine Existenzweise und lassen sie als selbstverständlich erscheinen, die es zu überwinden gilt. Wollen wir denn unbedingt gewinnen? Ist es wirklich ein Triumph, wenn alle anderen als Verlierer dastehen? Entspricht uns eine kooperative Lebenshaltung nicht viel mehr? Doch nicht nur die Kinder sollten im Spiel „ihre Welt“ bewahren und ihre Zugehörigkeit zu ihr weiterhin ausleben können, uns allen sollte dies möglich sein, und da kann es natürlich nicht mit einer anderen Spielkultur allein sein Bewenden haben. Es geht auch um das Schulsystem, um die Arbeitswelt, es geht auch um das Miteinander aller Staaten und Staatengemeinschaften beziehungsweise Machtblöcke auf unserer Erde und darüber hinaus auch um unser Verhältnis zu unserer gemeinsamen Mitwelt.

 

Die Scuola di Barbiana

 

Bleiben wir beim Schulsystem, das aber natürlich in die Gesamtgesellschaft hineinwirkt. Kennen Sie die „Scuola di Barbiana“ in Italien? Lorenzo Milani (1923–1967), zweites von drei Kindern einer angesehenen jüdischen Familie in Florenz, zum Katholizismus konvertiert und 1947 zum Priester geweiht, hat sie – und zwar ausdrücklich in seiner Funktion als Priester, also aus einer religiösen Motivation heraus – um die Mitte des 20. Jahrhunderts in einem Bergdorf jenes Namens in der Toskana gegründet (ich stütze mich weitestgehend auf den Aufsatz „Die Scuola di Barbiana“ von Claudia Köster). Zeit seines Lebens fühlte er sich den Unterprivilegierten, Ausgeschlossenen, Verarmten verbunden und kritisierte die katholische Kirche scharf, der er vorwarf, nicht auf deren Seite zu stehen. Milani bekannte sich „wie Jesus“ zu den „Letzten“ der Gesellschaft.

Die Kinder der Bauern und Arbeiter in jenem Dorf hatten keinen Zugang zum italienischen Regelschulsystem, das fast nur den höheren Schichten vorbehalten war. Milani betrieb keine Begabtenförderung und keine Wissensvermittlung, die im üblichen Schulsystem seiner Meinung nach nur dem Zweck diente, den Code der Privilegierten zu vermitteln, um deren Schicht anzugehören, sondern wollte seine Schüler*innen im Gegenteil in die Lage versetzen, ihre eigene gesellschaftliche Situation zu erfassen, um sich einmal für eine solidarisches Miteinander einzusetzen. Die Kinder sollten durch die Schule gerade nicht zu Individualisten und Egoisten werden. In der Scuola di Barbiana gab es weder Noten noch Zeugnisse oder Versetzungen, das Konkurrenzdenken sollte gänzlich ausgeschaltet sein. Der Lehrer stand nicht über seinen Schüler*innen, vielmehr verstanden sich alle als Lernende und Lehrende zugleich. Ziel war die Verantwortung des Einzelnen für alle, die Lorenzo Milani vorlebte. Es kam in dem Motto zum Ausdruck, unter dem die Schule stand: „I care“, „Ich kümmere mich“, und war das direkte Gegenteil des faschistischen „Me ne frego“, „Es ist mir egal“.

Eine weltweite Gesellschaft unter dem Motto „I care“, das sowohl im Italienischen als auch im Englischen „Ich kümmere mich“ bedeutet – warum eigentlich nicht? Sind wir nicht alle – sozusagen von Kindesbeinen an – dazu „berufen“, könnten also zum Beispiel unseren Beruf unter diesem Gesichtspunkt ausüben? Es wäre ein in beiderlei Weise wohltuendes Wechselgeschehen: Ich bin/wir sind für andere da, aber auch sie für uns/mich. Allerdings sei daran erinnert, dass dies nur gelingen kann, wenn sich niemand durch seinen Reichtum einen Vorteil gegenüber anderen zu verschaffen sucht. Nicht groß, schon gar nicht der Erste sein zu wollen, sondern stattdessen anderen zu dienen beziehungsweise der „Sklave aller“ zu sein, kann immer nur heißen, alle Menschen gleich zu behandeln, keinen zu benachteiligen und niemanden vorzuziehen.

 

Kain und Abel. Wie aus Brüdern Konkurrenten werden

 

Ungleichbehandlung bedeutet Demütigung und kann katastrophale Folgen haben. Dies verdeutlicht eindrücklich die alttestamentliche Erzählung von der Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain (1. Mose 4,1–16) – ohne allerdings diesen die Gewalttat hervorrufenden Beweggrund in irgendeiner Weise zu problematisieren. Beide hatten Jahwe ein sogenanntes Primitialopfer dargebracht, das heißt, sie spendeten der Gottheit die ersten oder besten Erzeugnisse ihrer Arbeit: Kain von den Früchten des Ackers, Abel von den Erstgeburten seiner Herde und ihrem Fett. Die Reaktion Jahwes darauf ist gespalten: „Jahwe sah Abel und sein Opfer an; Kain und sein Opfer sah er nicht an.“ (Vers 4b.5a) Eine Begründung wird nicht genannt.

Wer könnte es Kain verdenken, dass er sich gekränkt fühlt, benachteiligt gegenüber seinem Bruder, völlig unbegreiflicherweise zurückgesetzt, obwohl er seine Opfergaben ebenso sorgfältig ausgewählt und gewiss mit demselben lauteren Herz dargebracht haben dürfte wie jener? Kann sich Jahwe Kains durch diese Demütigung hervorgerufenen Zorn wirklich nicht erklären, sodass er ihn fragt: „Warum ergrimmst du und warum senkt sich dein Blick?“ (Vers 6b) Hat er denn nicht die „Sünde“ veranlasst, die er in Kain sich anbahnen sieht und vor der er ihn warnt (Vers 7)? Ist es denn ein Frevel, Ungerechtigkeit nicht hinzunehmen? Durch seine Ungleichbehandlung hat Gott Abel zum Sieger gemacht und Kain zum Mörder werden lassen. Aus Brüdern sind Konkurrenten geworden. Da ist ein brutales System etabliert worden. Eine unsichtbare Macht hat die Herrschaft übernommen, dem die Menschen – einstmals und gleichwohl immer noch Geschwister – nun ausgeliefert sind. Jetzt muss man konkurrenzfähig sein, sonst hat man verloren, sonst ist man verloren. Nur der prosperiert, nur der hat Erfolg, der den anderen überbietet. Der Unterlegene, der, der nicht mithalten kann, muss sehen, wo er bleibt: „unstet und flüchtig“ muss er sein (Vers 14), wohnhaft „jenseits von Eden“ (Vers 16).

Will die Erzählung etwa darauf hinaus, dass Menschen Ungleichbehandlung fraglos zu akzeptieren und sich nicht dagegen aufzulehnen, dass sie das, was „von oben“ über sie verhängt wird, eben hinzunehmen hätten? Aus dem Jesuswort geht etwas anderes hervor: Nicht groß, nicht Erster sein wollen, sondern Diener der Menschen, ja aller Sklave, das heißt auch: Herrschaft, deren Kehrseite oftmals demütigendes, jedenfalls die Lebensqualität nicht förderndes, sondern einschränkendes Beherrschtwerden ist, nicht hinzunehmen, sondern zu überwinden – um der Beherrschten, aber auch um der Herrschenden willen, deren Haltung dem richtigen Leben ebenfalls zuwiderläuft. Und es heißt eben auch: einem prinzipiell ungerechten, demütigenden, niemals fairen Konkurrenzsystem und permanenten Wettbewerb die rote Karte zu zeigen und einer solidarischen Ökonomie den Weg zu bahnen.

Noch einmal sei an die Kinder erinnert. Von Charles Dickens ist das Wort überliefert: „Kinder erleben nichts so scharf und bitter wie Ungerechtigkeit.“ (Aus: Great Expectations, Große Erwartungen, Kapitel 8, 1861) Das „Reich Gottes“ anzunehmen wie ein Kind bedeutet wohl auch dies: Jene Schärfe und Bitterkeit auch als Erwachsene:r nie zu verlernen, nie zu übertünchen, nie zu verdrängen, Ungleichbehandlung zum Beispiel keinesfalls zu akzeptieren. Aber auch verlieren zu müssen oder gewinnen zu wollen wird unserem Menschsein nicht gerecht, oben, abgehoben von allen anderen zu schweben beziehungsweise auf die hinteren Plätze verwiesen oder gar ganz nach unten abgeschoben zu werden, entspricht ihm nicht. Von Anfang an ist es auf Kooperation und Miteinander angelegt.

Claus Petersen

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