Zum 250. Todestag des Gelehrten und Wegbereiters der Bibelwissenschaft, Hermann Samuel Reimarus

 

Vor 250 Jahren, am 1. März 1768, starb Hermann Samuel Reimarus, Begründer und Wegbereiter der historisch-kritischen Bibelwissenschaft.

Von 1728 bis zu seinem Tod wirkte Reimarus als Professor für orientalische Sprachen am Akademischen Gymnasium in Hamburg, verfasste eine Reihe philologischer, theologischer und philosophischer Schriften und entwickelte sich zu einer bedeutenden und angesehenen Person der Hamburger Öffentlichkeit. Er bewegte sich in aufgeklärten Kreisen und knüpfte Kontakte zu wichtigen Persönlichkeiten seiner Zeit. Ohne dass andere davon wussten, beschäftigte er sich allerdings bereits seit den 1730er Jahren mit der Frage der Vereinbarkeit der Bibel mit der Vernunft. Aus seinen Forschungen entstand das umfangreiche Werk: „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“, doch wagte Reimarus nicht, es zu seinen Lebzeiten zu veröffentlichen.

Über Reimarus’ Kinder, mit denen er befreundet war, gelangte Gotthold Ephraim Lessing in den Besitz der Apologie und veröffentlichte in seiner Funktion als Bibliothekar der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel einige Jahre nach Reimarus’ Tod stückweise Auszüge aus dieser Schrift, ohne den Namen des Verfassers bekanntzugeben. In den von ihm herausgegebenen Beiträgen „Zur Geschichte und Literatur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel“ erschien 1774 unter dem nicht besonders auffälligen Titel „Von Duldung der Deisten“ zwischen anderen Manuskripten aus der Bibliothek das erste dieser „Fragmente eines Ungenannten“. Nachdem eine öffentliche Reaktion ausblieb, brachte Lessing drei Jahre später in einem eigenen Heft ohne andere Beiträge unter der Hauptüberschrift „Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten die Offenbarung betreffend“ fünf weitere Fragmente heraus, und zwar unter folgenden deutlicheren und provozierenden Überschriften: „Von der Verschreiung der Vernunft auf den Kanzeln“, „Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben können“, Durchgang der Israeliten durch das Rote Meer“, Dass die Bücher des A.T. [des Alten Testaments] nicht geschrieben wurden, eine Religion zu offenbaren“ und „Über die Auferstehungsgeschichte“. 1778 folgte schließlich „Noch ein Fragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten“: „Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger“.

Diese Veröffentlichungen führten zur heftigsten theologischen Debatte des 18. Jahrhunderts. Zahllose Schriften und Gegenschriften erschienen. Lessing selbst handelte sich damit das Verbot ein, jemals wieder etwas zum Thema zu veröffentlichen, und er verlor die Freiheit, weiter unzensiert publizieren zu dürfen. –

Bahnbrechend und für die Rekonstruktion des authentischen jesuanischen Evangeliums grundlegend war Reimarus‘ Unterscheidung zwischen der Predigt Jesu und den Lehren der Apostel. So heißt es in dem zuletzt genannten „Fragment“:

Ich finde wichtige Gründe, dasjenige, was die Apostel in ihren eignen Schriften vorbringen, von dem, was Jesus in seinem Leben wirklich selbst ausgesprochen und gelehret hat, gänzlich abzusondern. Denn die Apostel sind selbst Lehrer gewesen, und tragen also das Ihrige vor, haben auch nimmer behauptet, daß Jesus selbst in seinem Leben alles dasjenige gesagt und gelehret hat, was sie schreiben.

Doch schon im zuerst veröffentlichten „Fragment“ führt Reimarus aus:

…wenn man Christi eigene Lehre nicht von der Lehre der Apostel und Kirchenväter absondern, und allein beybehalten wollte, so liesse sich das apostolische und nachmals immer weiter ausgeartete Christenthum mit keinen Künsteleyen und Wendungen mehr retten. Die reine Lehre Christi, welche aus seinem eigenen Munde geflossen ist, so fern dieselbe nicht besonders in das Judenthum einschlägt, sondern allgemein werden kann, enthält nichts als eine vernünftige practische Religion. Folglich würde ein jeder vernünftiger Mensch, wenn es einer Benennung der Religion brauchte, sich von Herzen christlich nennen. Und vielleicht haben diejenigen bey den Corinthern, welche weder paulisch, noch apollisch, noch kefisch, sondern christlich heissen wollten, solche Reinigkeit der Lehre Christi, ohne alle Zusätze dieser und jener Apostel, dadurch bekannt. Eben diese Lehre würde auch noch christisch geblieben seyn, wenn man sie nach eben denselben Grundsätzen weiter ausgeführt und zu einer vollständigen Unterweisung der Gottesfurcht, Pflicht und Tugend, gemacht hätte. Sobald aber die Apostel anfingen, ihr jüdisches System von dem Messias und von der Göttlichkeit der Schriften Mosis und der Propheten, mit hinein zu mischen, und auf diesen Grund ein geheimnißvolles neues System zu bauen: so konnte diese Religion nicht mehr allgemein werden.

 

Albert Schweitzer beginnt das Kapitel über Hermann Samuel Reimarus in seiner „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ mit dem Satz: „Vor Reimarus hatte niemand das Leben Jesu historisch zu erfassen versucht.“ Sein Werk „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“ ist für ihn „nicht nur eines der größten Ereignisse in der Geschichte des kritischen Geistes, sondern zugleich ein Meisterwerk der Weltliteratur“. „Sein Werk ist vielleicht die großartigste Leistung in der Leben-Jesu-Forschung überhaupt, denn er hat zuerst die Vorstellungswelt Jesu historisch […] erfasst.“ Im letzten Satz des Kapitels nennt er es „die großartige Ouvertüre, in welcher alle Motive der kommenden Leben-Jesu-Forschung anklingen“.

 


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