„Wann kommt denn nun Gottes Reich?“

Das Neue Testament gibt auf diese Frage vier ganz unterschiedliche, nicht miteinander vereinbare Antworten (fatalerweise erwecken sie allesamt den Eindruck, auf Jesus von Nazaret zurückzugehen): Es wartet nach unserem Tod, im Jenseits, auf uns (z.B.: „Wahrlich, ich sage euch, dass ich nicht mehr trinken werde vom Gewächs des Weinstocks bis an den Tag, an dem ich aufs Neue davon trinke im Reich Gottes“; Markus 14,25 par.), Gott wird es hier auf Erden errichten (z.B. die Vaterunser-Bitte „Dein Reich komme“), es ist jetzt herbeigekommen, es ist jetzt da („Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist herbeigekommen“, Markus 1,15), es kommt gar nicht, sondern ist immer schon da, aber nicht alle haben an ihm teil („es ist mitten unter euch“, Lukas 17,21; man kann es entdecken wie einen Schatz, Matthäus 13,44; die Kinder gehören ihm bereits an, Markus 10,15, ebenso die Armen, die, die nicht mehr haben, als sie brauchen, Matthäus 5,3/Lukas 6,20; u.a.).

„Wann kommt denn nun Gottes Reich?“ Unter dieser Fragestellung erklärt und begründet Prof. Dr. Christoph Kähler, Leiter des von der EKD in Auftrag gegebenen Projekts „Lutherbibel 2017“, in der aktuellen Ausgabe des evangelischen Magazins „Chrismon“ (06/2018, S. 77), warum Markus 1,15 in der revidierten Lutherbiel nicht mehr wie bisher lautet: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen“, sondern „… das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen“. Er schreibt:

Es ist ein Unterschied, ob das Reich Gottes nahe oder schon gekommen ist. Luther lässt an dieser Stelle das Wort „nahe“ aus, weil für ihn Jesus als Person die Herrschaft Gottes verkörpert. In seiner Hilfe für Kranke, seiner Zuwendung zu Armen und seinem Zuspruch für Verzweifelte bezeugt Jesus Gottes Liebe. In seinem schrecklichen Tod und seiner Auferstehung zeigt Gott, wie er in dieser Welt der Ungerechtigkeit und des tödlichen Leidens herrschen will.
Indem Luther das Wort „nahe“ auslässt, betont er die Gegenwart Gottes und hebt die Spannung auf, die sich eigentlich mit der Wendung „nahe kommen“ andeutet. Der vollständigere Satz lässt Raum für die Erfahrung, dass die Herrschaft Gottes noch nicht vorhanden ist. So wird das Erleben von Unrecht und Elend in dieser Welt nicht ausgeblendet. Gerade weil das Böse nicht zu übersehen ist, hoffen und bitten wir für uns und unsere Mitmenschen: „Dein Reich komme!“
Zum Gottvertrauen gehört beides: dass man sieht, wie anderen und einem selbst Böses zustößt. Und dass man gleichzeitig für das Leben und für Hilfe in der Not dankbar bleibt und Gottes Nähe erkennt. Beides anzuerkennen, kann eine große Herausforderung sein.

Tatsächlich gibt Luther dasselbe Wort an anderer Stelle, nämlich in Matthäus 4,17, anders wieder. Obwohl es sich um dasselbe griechische Verb ängiken handelt und es im selben Zusammenhang steht wie bei Markus, übersetzt er es dort mit „nahe herbeigekommen“. Kähler vermutet, dass Martin Luther aus speziellen theologischen Gründen in Markus 1,15 „das Wort ‚nahe‘ auslässt“. Seiner Meinung nach ist allerdings die „vollständigere“ Wiedergabe dem christlichen Reich-Gottes-Verständnis durchaus angemessener. Eben aus diesem Grund ist Luthers Übersetzung an dieser Stelle revidiert worden. Markus 1,15 wurde an Matthäus 4,17 angeglichen – dabei hätte es in die genau umgekehrte Richtung gehen müssen.

Betrachten wir zunächst den Zusammenhang: Die beiden ersten eng aufeinander bezogenen Zeilen in Markus 1,15 weisen eine im Griechischen ungewöhnliche Wortstellung auf: Entgegen der üblichen Syntax sind die Verben jeweils vorangestellt. Auf ihnen nämlich liegt jeweils der Ton. Der erste Satzteil lautet wörtlich: „Erfüllt ist die Zeit.“ Das heißt: Die Zeit des Wartens ist vorbei, bis zur letzten Sekunde gewissermaßen. Es ist jetzt soweit, wie bei einer Sanduhr ist sämtlicher Sand restlos in den unteren Glaskolben geflossen, er hat sich ganz gefüllt. Eben auf das Erfülltsein der Zeit kommt es hier an. Daran kann sich – und vielleicht hat Martin Luther eben dies gespürt (im Matthäusevangelium fehlt dieser Zusammenhang) – nur ein „herbeigekommen“ („herbeigekommen ist das Reich Gottes“, wie der zweite Satzteil wörtlich heißt) anschließen. Wie die Zeit jetzt erfüllt ist, so ist das Reich Gottes jetzt da. Dass es eben soweit ist, das ist offensichtlich das Evangelium, zu dem die Menschen „umkehren“ bzw. auf Grund dessen sie „umdenken“, das sie „glauben“ bzw. auf das sie „vertrauen“ sollen.

Bestätigt wird diese Sicht aber vor allem durch das hier gewählte Tempus, also die Zeitstufe der verwendeten Verben: Beide Male stehen sie eben nicht im sogenannten Aorist, der bei einem im Gang befindlichen, noch nicht abgeschlossenen Geschehen verwendet wird, sondern im Perfekt. Dieses aber bezeichnet im Gegensatz zum Aorist den zur Vollendung gekommenen Zustand, in unserm Fall das Erfülltsein der Zeit, das Gekommensein, das Da-Sein des Reiches Gottes. Im zweiten Satzteil handelt es sich um dieselbe Verbform wie in Markus 14,42: „Siehe, der mich verrät, ist da“. Mit besonderem Nachdruck hat Meinrad Limbeck in seiner Tübinger Abschiedsvorlesung am 9. Februar 2000 darauf hingewiesen (vgl. ders., „Das Reich Gottes ist da!“ [MK 1,15]. Der griechische Urtext und die Mitte der Botschaft Jesu“, Stuttgart o.J.; das Manuskript ist beim Katholischen Bibelwerk e.V., Silberburgstraße 121, 70176 Stuttgart, erhältlich).

Markus 1,15 fasst programmatisch knapp zusammen – zum ersten Mal ergreift Jesus dem Markusevangelium zufolge hier selbst das Wort –, wie man in früh-nachjesuanischer Zeit (dafür, dass dieses Wort nicht von Jesus selber stammt, sondern ihm erst nachträglich in den Mund gelegt worden ist, spricht schon allein das missionstheologische Vokabular dieses Summariums: „umkehren“, „glauben“, „Evangelium“) die Jesusbotschaft, das jesuanische Evangelium verstanden hat und verkündigt wissen wollte: „Evangelium“ meint hier noch nicht, wie kurz zuvor in Markus 1,1, die Botschaft von Jesus als dem Christus und Gottessohn und auch nicht wie in 1. Korinther 15,1.3b-5 die Heilsbedeutung von Kreuz und Auferstehung, sondern die „gute Nachricht“, dass das Reich Gottes jetzt da ist, dass es Gegenwart geworden ist.

Zwar erklingt damit bereits ein neuer, ungewohnter Ton: Reich Gottes, nicht im Jenseits, nicht in der Zukunft, sondern ab sofort im Hier und Jetzt. Allerdings trifft bereits dieses sehr alte Verständnis der Jesusbotschaft seine ureigene Intention schon nicht mehr wirklich. Für den historischen Jesus nämlich kommt das Reich Gottes nicht, bricht nicht herein, weder in der Zukunft noch jetzt in der Gegenwart. Vielmehr ist es immer schon da. Nur die im ersten Absatz an vierter Stelle genannten Antworten auf die Eingangsfrage gehen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auf Jesus selbst zurück.

Genau diese völlig neue Sichtweise Jesu bezeugt ein weiterer Text, der in der revidierten Lutherbibel von 2017 jetzt korrekt wiedergegeben ist – eine wirklich fundamentale Verbesserung, vielleicht die schönste Frucht des Reformationsjubiläums überhaupt, und dafür verdient die von Prof. Dr. Kähler geleitete Kommission nur die allerhöchste Anerkennung: In Lukas 17,21 lautet die Einladung zum Großen Gastmahl jetzt, nach über 500 Jahren, nicht mehr fälschlich: „Kommt, denn es ist alles bereit!“, sondern, wie es die ältesten, Martin Luther noch nicht bekannten Handschriften bezeugen: „Kommt, denn es ist schon bereit!“ (Nähere Informationen dazu finden Sie hier).

Erst jetzt kommt die Intention Jesu in diesem Gleichnis wieder in voller Kraft zum Leuchten. Nicht das Reich Gottes nämlich ist es, das kommt oder jetzt gekommen ist. Wir, die Menschen, sind es, die eingeladen sind und kommen sollen, denn der für sie gedeckte Tisch steht schon (immer) bereit. Wer an ihm Platz nimmt, Platz nehmen kann (und dazu ist offensichtlich nicht jeder in der Lage, wie gerade dieses Gleichnis in so bestürzender Weise hervorhebt), für den gibt es kein Oben und Unten mehr, keine Feinde, die es zu bekämpfen, oder Menschen, die es abzuwehren gilt, und vor allem: niemand, der an dem Großen Gastmahl teilnimmt, hat zu wenig zum Leben, niemand aber auch mehr, als er braucht.

„Reich Gottes“ ist für Jesus nicht mehr eine neue, eine andere Welt, die Gott herbeiführt, auch nicht eine Welt ohne Leid, Traurigkeit und Tod (die gibt es nicht und hat es noch nie gegeben). Es ist für ihn überhaupt keine objektive und objektivierbare Größe, die man „beobachten“, über die  man sagen könnte: „siehe, hier! oder: dort!“ (Lukas 17,21). Nicht das „Reich Gottes“ allein und als solches war sein Thema, sondern unsere Teilhabe an ihm. Das aber ist dann der Fall, wenn wir die Verbundenheit mit der Gotteswelt fühlen, spüren, wahrnehmen, in der sich unsere Existenz entfaltet, und also weltverbunden leben. Und auf der Stelle, hier und jetzt, werden Gewalt und Unterdrückung, Krieg, Ausbeutung von Mensch und außermenschlicher Natur, Reichtum und Elend, jegliche Ungleichheit unweigerlich obsolet. Neues, richtiges Leben gedeiht – mitten im falschen!

Dr. Claus Petersen


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