Leonardo Boff, Die Erde Gottes

Wer über das Universum staunt, bewahrt sich den Sinn für eine große Gemeinschaft, von der der Mensch ein Teil ist. 

 

Wir wollen die Erde „aus erster Hand“ erfahren: Wir wollen die Brise auf der Haut spüren, ins frische Bergwasser eintauchen, in den noch naturbelassenen Wald eindringen und die Artenvielfalt in ihren unterschiedlichen Ausdrucksgestalten wahrnehmen. Eine Haltung des Staunens entsteht wieder neu. Eine neue Sakralität wird sichtbar, und ein Gefühl der Innerlichkeit und Dankbarkeit kommt auf.

Wir möchten natürliche Produkte in unverfälschtem Zustand schmecken und keine gentechnisch veränderten oder von der Industrie und den menschlichen Interessen geprägten Dinge. Der esprit de finesse (Geist des Feingefühls), der von Franz von Assisi und Blaise Pascal so geschätzt wurde, erreicht hier seinen freiesten Ausdruck. Es entsteht eine postkritische „zweite Naivität“ als Frucht der Wissenschaft selbst, insbesondere der Kosmologie, der Astrophysik, der Molekularbiologie und der Genetik. Sie alle haben uns Dimensionen der Wirklichkeit aufgezeigt, die man zuvor nicht geahnt hat: auf der Ebene des unendlich Großen, des unendlich Kleinen und des unendlich Komplexen. Das Universum der Dinge und Lebewesen erfüllt uns mit einem Gefühl der Achtung, der Verehrung und Würde. Eine emanzipatorische Utopie erscheint am Horizont, dank der Freisetzung eines neuen ethischen, ästhetischen, politischen, partizipativen und solidarischen gemeinsamen Empfindens, das ein neues Gefühl der Verzauberung im Hinblick auf das Leben und die Natur hervorbringt.

Neue Liebe zum Ursprung

Der Gebrauch der instrumentellen Vernunft ist nicht die einzige Art, unsere intellektuellen Fähigkeiten einzusetzen. Es gibt auch die symbolische Vernunft und die Vernunft des Herzens, die emotionale und spirituelle Intelligenz und den Gebrauch all unserer leiblichen und geistigen Sinne. Die Vernunft ist weder die erste noch die letzte Instanz des Lebens. Wir sind ebenso sehr Affektivität und Begehren (eros), Leidenschaft, Berührt-Sein, Kommunikation und Aufmerksamkeit auf die Stimme der Natur, die in uns spricht. Diese Stimme ertönt in unserer Innerlichkeit und bittet um Gehör und unsere Aufmerksamkeit (die Gegenwart des daimonion in uns).

Wissen ist nicht nur eine Form, die Wirklichkeit zu beherrschen. Wissen heißt auch, mit den Dingen Gemeinschaft zu pflegen. Deshalb sagt Augustinus in der Gefolgschaft Platons: „Wir wissen in dem Maße, in dem wir lieben.“ Diese neue Liebe zu unserem Ursprung und unserer Heimat verleiht uns eine neue Sanftheit und öffnet uns einen höchst wohltuenden Weg der Beziehung zur Natur. Wir bekommen eine neue Wahrnehmung der Erde als einer riesengroßen Gemeinschaft, deren Teil wir sind. Wir sollten besser anstatt von „Umwelt“ von der „Gemeinschaft des Lebens“ sprechen, denn alle Lebewesen sind miteinander verwandt und voneinander abhängig. Wir erweisen uns als verantwortliche Mitglieder dieser Gemeinschaft, damit alle übrigen Mitglieder und alles, was sonst noch dazugehört  vom energetischen Gleichgewicht der Böden und der Luft angefangen über die Mikroorganismen, die Tiere und Pflanzen bis zu den Ethnien und jeden einzelnen Menschen , in ihr in Harmonie und Frieden zusammenleben können. Letztlich macht sich hier das Gefühl der Notwendigkeit einer neuen Form bemerkbar, Wissenschaft und Technik einzusetzen: mit der Natur zusammen, für die Natur und niemals gegen die Natur.

Die Natur zeigt sich als ein Prozess der Selbsttranszendenz und Selbstschöpfung … Dies eröffnet die Möglichkeit zu einem neuen Dialog zwischen der öko-kosmologischen Sichtweise und der Theologie, denn diese Selbsttranszendenz könnte auf das verweisen, was die Religionen und spirituellen Traditionen immer schon „Gott“ genannt haben, die absolute Transzendenz oder die absolute Zukunft, die nicht einfach die Wiederholung einer verlorenen Vergangenheit ist, sondern Entstehung des Neuen und Unerwarteten, eines Universums also, das nicht länger Gefangener des Entropiegesetzes ist, dessen „Zukunft“ der Wärmetod wäre. Im Gegenteil, diese absolute Zukunft wäre die Verwirklichung der höchsten Ordnung, Harmonie und eines Lebens ohne Verschleiß.

Die Wissenschaften der Komplexität haben aufgewiesen, dass eine gemeinsame Textur alle vereint und Netze der wechselseitigen und rückgekoppelten Verbundenheit schafft, die alle betreffen. Diese Sichtweise hat uns davon überzeugt, dass die grundlegende Struktur des Menschen nicht die Vernunft ist, sondern das Gefühl und das Empfindungsvermögen. Noch vor jeder Vernunft gibt es das Reich der Leidenschaften und Gefühle. Über der Vernunft steht die Intelligenz, die die Dinge durch Intuition erfasst und betrachtet. Daniel Coleman hat mit seinem Buch über die emotionale Intelligenz (1997) den empirischen Beweis erbracht, dass die Emotion der Vernunft vorausliegt.

Das wird verständlicher, wenn wir bedenken, dass wir Menschen nicht nur rationale Lebewesen (animal rationale lautet die Definition), sondern rationale Säugetiere sind. Als die Säugetiere vor mehr als hundert Millionen Jahren die Bühne des Lebens betraten, entstand auch das limbische System im Gehirn, das für die Gefühle, die Sorge und die Liebe zuständig ist. Die Mutter empfängt und trägt das Kind in sich aus, umgibt es mit Fürsorge und Zärtlichkeit, sobald es auf die Welt gekommen ist. Erst in den letzten drei oder vier Millionen Jahren entstand der Neokortex und damit die abstrakte Vernunft, das begriffliche Denken und die rationale Sprache.

Zum jetzigen Zeitpunkt besteht die große Herausforderung darin, dem, was in uns älter ist, einen zentralen Stellenwert zu geben: dem Gefühl und dem Empfinden. Kurz gesagt: Es ist notwendig, das Herz wieder ins Recht zu setzen, in dem unsere Mitte liegt: unsere Fähigkeit, tief zu empfinden, der Sitz der Gefühle und der Ort, wo die Werte verankert sind. Damit verdrängen wir die Vernunft nicht, wir integrieren sie vielmehr als unverzichtbares Instrument der kritischen Unterscheidung und als ordnende Instanz der Gefühle, ohne diese zu ersetzen. Wenn wir es heute nicht lernen, die Erde wie eine Mutter zu sehen und uns um sie zu sorgen wie um unsere Kinder, dann werden wir sie kaum retten können. Ohne das Empfinden wird die Intervention von Technik und Wissenschaft nicht ausreichen, denn diese sind allzu utilitaristisch, kalt und funktionalistisch.

Ein Herz  in allem

Dieser zentrale Stellenwert des Gefühls und des Herzens wurde uns im Osten durch den Buddhismus und im Westen durch Franziskus von Assisi und Arthur Schopenhauer vermittelt. Franziskus versah seine Welt mit einem Zauber, indem er alle und jedes einzelne Lebewesen als Geschwister betrachtete, die Wehrlosen beschützte und angesichts der Schönheit der Natur ins Staunen geriet. Sein „Sonnengesang“ ist ein Lobeshymnus für alle Geschöpfe, die er nicht einfach als Brücken betrachtete, um zu Gott zu gelangen, sondern vielmehr als sakramentale Wirklichkeiten, die die Gegenwart Gottes bereits in sich enthalten. Und Schopenhauer sagte in seinem Werk „Die beiden Grundprobleme der Ethik“: „Verletze niemanden; vielmehr hilf allen, soweit du kannst.“

Ein berühmter chinesischer Text aus dem 15. Jahrhundert aus dem „Buch der Belohnungen und Strafen“ lautet: „Erweisen wir uns den Tieren gegenüber als menschlich. Es ist nötig, nicht nur die Menschen zu lieben, sondern auch die Tiere, denn wenn sie auch in ihrer Mehrzahl klein sind, so sind sie doch Träger desselben Lebensprinzips; sie klammern sich an dieses Prinzip und sträuben sich dagegen, zu sterben. Verfallen wir nicht der Barbarei, die uns dazu führt, sie zu töten. Fügen wir den Insekten, den Pflanzen, ihren Eiern und Samen keinen Schaden zu.“

Es kommt also darauf an, zu erkennen, dass es in allem ein Herz gibt und dass letztlich das Herz der Welt, das Herz des Menschen und das Herz Gottes ein einziges großes Herz bilden, das im Rhythmus der Liebe und herzlichen Zuwendung schlägt.

(Aus: Leonardo Boff, Die Erde ist uns anvertraut. Eine ökologische Spiritualität. Aus dem Portugiesischen übersetzt von Bruno Kern. © 2010 Butzon & Bercker GmbH, Kevelaer, S. 156ff. und 194ff., www.bube.de)


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