„Jesus hat das Morgenrot geweckt.“ Kanzelrede am 18. Dezember in Solz/Thüringen (Claus Petersen)

 

„Ich will das Morgenrot wecken!“ Als ob es noch schlummert. Als ob es sich nicht von allein erhebt, das Morgenrot, sondern einen Impuls braucht, damit es erwacht und damit die Nacht endlich schwindet. Jesus, meine Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder, hat das Morgenrot geweckt. Er hat es geweckt mit seiner Botschaft vom Reich Gottes, die allerdings schon in ganz früher Zeit wieder zugedeckt, ihrerseits wieder verdunkelt worden, der Kirche schon sehr bald wieder abhandengekommen ist. Wenn man sie aber identifiziert hat, wenn man sie aus den so ganz unterschiedlichen Traditionen des Neuen Testaments herausgefiltert und ans Licht geholt hat, dann kommt es einem so vor – mir ist es jedenfalls so ergangen –, als lichtete sich die Finsternis, als ließe die Entfremdung nach, in die wir geraten sind, die Entfremdung voneinander, die Entfremdung von der Welt, die uns doch hervorgebracht hat und mit der wir durch tausend Fäden verbunden sind.

Noch ist es Nacht. Ja, manchmal hat man das Gefühl, sie verfinstere sich immer noch mehr – ähnlich wie ja auch jetzt in der Adventszeit die Tage immer kürzer und die Nächte immer und immer noch länger werden.

Die acht reichsten Männer der Welt – Menschen wie du und ich, unsere Mitmenschen letztlich – besitzen mehr als die gesamte ärmere Hälfte der Menschen auf unserer Erde. In unserem Land wächst jedes fünfte Kind in Armut auf, in relativer Armut zwar, aber es spürt die Ungleichheit, die Ungerechtigkeit, spürt, dass es benachteiligt ist. Wie konnte es so weit kommen? Weshalb verschlimmert es sich sogar immer noch mehr? Können denn diejenigen wirklich glücklich sein, die angeblich auf der Sonnenseite leben?

Wir alle haben das elementare Bedürfnis, dass uns und allen anderen Menschen, ja allem anderen Leben kein Leid geschehe. Und trotzdem werden in immer größerem Umfang die fürchterlichsten Waffen nicht nur hergestellt, sondern auch eingesetzt. Das Herz will uns manchmal brechen, wenn wir davon hören oder lesen, wenn wir im Fernsehen die Bilder sehen. Aber es gelingt uns nicht, Krieg und Militär und Rüstung endlich und für immer von dieser Erde zu verbannen. Im Gegenteil: All dies gilt als vollkommen selbstverständlich. Ist denn nicht immer schon und für alle Zeit homo homini lupus, der Mensch dem Menschen in Wolf? Dabei sind wir, ganz anders, Schwestern und Brüder, Mitmenschen, immer schon und für immer.

Und wie ist es mit der Welt überhaupt, aus deren Elementen wir bestehen und ohne die wir keine Sekunde leben könnten? Wie ist es möglich, dass wir durch unsere Lebensweise die ganze Biosphäre, Tiere, Pflanzen, den Boden, das Wasser, die Luft in einer Weise belasten, ja zerstören, dass sie insgesamt kippen, dass der Boden unter unseren Füßen nicht nur ins Wanken geraten, sondern einbrechen, dass unser Weiterleben nicht nur gefährdet, sondern schlichtweg nicht mehr möglich sein könnte?

Irgendetwas stimmt da nicht mehr. Irgendetwas ist aus dem Lot geraten. Da ist ein Zusammenhang gestört, zerbrochen, da muss es zu einer fatalen, unserem wirklichen Fühlen und Empfinden vollkommen zuwiderlaufenden Entfremdung gekommen sein.

 Und hier nun kommt die Botschaft Jesu ins Spiel. Nur relativ wenige Sätze und Geschichten in den Evangelien des Neuen Testaments gehen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auf ihn selber zurück, aber diese Worte haben es in sich, zum Beispiel dieses: „Ihrer“ – dem Zusammenhang nach können damit nur die Kinder gemeint sein – „ihrer ist das Reich Gottes. Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, der kommt nicht hinein.“ [Markus 10,15] Gleich zweimal begegnet hier ein Begriff, der wie kein zweiter für die Botschaft Jesu selber steht: „Reich Gottes“.

Was ist damit gemeint? Wenn Jesus sagt: „Ihrer, also der Kinder, ist das Reich Gottes“ und wenn es für die Erwachsenen offensichtlich darum geht, in das Reich Gottes hineinzugelangen, dann ist es natürlich etwas, an dem wir jetzt schon teilhaben sollen. Das Reich Gottes liegt dann nicht in der Zukunft oder gar im Jenseits, sondern es ist Gegenwart. Ja, noch mehr: Es scheint das Wichtigste überhaupt, es scheint geradezu die Bestimmung des Menschen zu sein, nicht von ihm getrennt, von ihm isoliert sein Dasein zu fristen, das Reich Gottes vielmehr so annehmen zu können, wie es Kindern ganz selbstverständlich ist.

Was aber könnte es sein, das Kindern normalerweise eigen, uns Erwachsenen aber verloren gegangen ist, was wir aber vielleicht gerade von den Kindern wieder lernen, uns bei ihnen abschauen könnten, ja sollten? Es muss etwas so Schönes und Wichtiges sein, etwas so Kostbares, ja etwas Heiliges, dass Jesus es „Reich Gottes“ nennt. Und da Kinder natürlich diesen Begriff nicht verwenden, ihn nicht einmal kennen – das war vor 2000 Jahren nicht anders –, kann es sich nicht um einen Gedanken, um eine Einsicht, nicht um ein Programm oder eine Lehre, nicht um einen Glaubenssatz, um ein Dogma handeln, sondern es muss mit ihrer Lebensweise, mit ihrer Art, sich in der Welt zu verhalten, zu tun haben.

Kinder leben von Anfang an in innigstem Bezug zur Welt. Sie beziehen sich nicht auf die Welt, es ist kein Akt ihres Bewusstseins, sondern sie sind – eben als Kinder – weltbezogene, weltverbundene Menschen. Sie leben diese Verbundenheit. Sie nehmen die Welt mit allen Sinnen wahr. Sie äußern die Bedürfnisse, die sie an die Welt haben, wenn sie Hunger haben, wenn sie Zuwendung brauchen, wenn sie müde sind und schlafen wollen, und gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass diese Bedürfnisse erfüllt werden. Kinder wollen mit ihren Mitmenschen, mit ihrer Welt im Einklang sein und bleiben.

Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass sie beim Spielen nicht verlieren können. Sie wollen aber auch niemanden besiegen. Mir wurde erzählt, ein kleines Mädchen habe bitterlich geweint, weil es beim Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel mit ihrer geliebten Großmutter gewonnen hat. Wie viel lieber wäre es ihm gewesen, wenn das Spiel anders ausgegangen wäre. Dieses Spiel produziert einfach Ärger und Enttäuschung, da nützt auch der Titel nichts.

Sie kennen vielleicht das Spiel „Uno“. Die Kinderversion wird mit offenen Karten gespielt. Seine Kleine, erzählte mir kürzlich mein Sohn, wählt, wenn sie eine Wunschkarte gezogen hat, nicht etwa eine Farbe aus, die zu den eigenen Karten passt (oder gar eine, die es dem nächsten Spieler unmöglich macht, eine Karte abzulegen), sondern vielmehr diejenige, mit der der nächste Spieler das Spiel mühelos fortsetzen kann, die also genau zu seinem Kartendeck passt. Sie macht also viel lieber ihrem Mitspieler eine Freude als ihre eigenen Gewinnchancen zu erhöhen. Im Grunde hat sie aus dem „Uno“, einer, längst ein „Tutti“, alle, gemacht.

Ist das nicht unglaublich berührend? Geht es nicht in Wirklichkeit so, unser Leben und Zusammenleben? Ist es jetzt nicht wunderschön? Wünschen wir uns nicht alle eine Welt, in der es keine Sieger und Verlierer mehr gibt? Spüren Sie, wie sich auch in Ihnen das Morgenrot zu regen beginnt? Leben die Kinder nicht ganz selbstverständlich die Heiligkeit der Welt, der sie sich ganz unmittelbar zugehörig fühlen? Ist es so gänzlich abwegig, zu sagen, ihrer, der Kinder, sei das Reich Gottes?

Dazu passt sehr schön ein weiteres Jesuswort: „Wer unter euch groß sein will, soll euer Diener sein, und wer unter euch Erster sein will, soll der Knecht aller sein.“ [Markus 10,43b-44] Hier wird nicht etwa der, der ganz oben stehen möchte, dazu verurteilt, nicht der erste, sondern der allerletzte zu sein. Vielmehr plädiert Jesus für eine völlig andere Existenzweise, erinnert uns daran, wie wir tatsächlich das wahre Leben finden könnten: Statt uns von anderen abzusetzen, uns über sie zu erheben, sie „auf ihre Plätze zu verweisen“, entspricht es uns viel mehr, füreinander, letztlich für alle da zu sein. Nur auf diese Weise erfüllt sich unsere Geschwisterlichkeit, verspüren wir die Mitmenschlichkeit, die uns Menschen ja gerade als solche kennzeichnet, empfinden wir Erfüllung und Glück, die Reich-Gottes-Qualität unseres Lebens.

Man hat zwar das leise Gefühl, dass hier von einer anderen Welt die Rede ist als der, in der wir augenblicklich leben. Aber spüren wir nicht auch, wie ausgesprochen gut es uns allen täte, wenn wir es einmal anders und eben so probieren würden? Und merken wir nicht, dass wir es eigentlich auch könnten, dass es uns sogar liegt, ja dass es uns im Grunde viel leichter fiele, als uns immer wieder dem anzupassen, von dem wir ahnen oder sogar wissen, dass es eigentlich verkehrt, falsch, entfremdet und entfremdend ist? Hineinkommen, teilnehmen, mitmachen, nicht abseits stehen, das entfremdete Leben einfach nicht mehr akzeptieren, spüren, wie einen das „Reich Gottes“, das Leben in heiliger Verbundenheit, erreichen will – darauf kam Jesus alles an. Letztlich ging es ihm darum, dass wir die Sakralität dieser Weltverbundenheit – wieder – verspüren.

Also: „Kommt, denn es ist schon bereit!“ [Lukas 14,17] Ja, so heißt es jetzt endlich, nach 500 Jahren, wieder richtig in der revidierten Lutherbibel. Nicht weil „alles“ bereit ist, sollen die Leute zum Großen Gastmahl kommen, sondern weil es „schon“ bereit steht. Wir sollen endlich Platz nehmen an dem schon längst gedeckten Tisch der Weltverbundenheit, an dieser Tafel des Reiches Gottes. Es steht nichts mehr aus. Wir brauchen auf nichts mehr zu warten.

Warum tun wir es dann nicht, das eigentlich so Selbstverständliche, dieses eigentlich so Wunderschöne? Genau das ist das Thema in diesem Jesusgleichnis. Manche, ja alle, die zuerst eingeladen waren, schaffen es einfach nicht – weil sie einen Acker oder weil sie Ochsengespanne gekauft oder weil sie geheiratet haben. Hier spiegelt sich ganz sicher die Erfahrung, die Jesus selber immer wieder gemacht hat: Die Reichen, die Besitzenden, aber auch die, die sich in ihre Privatsphäre zurückziehen und ihre Weltverbundenheit verkümmern lassen, sind nicht mehr in der Lage, sich dem Leben, dem wahren Leben, dem Leben in Verbundenheit zu öffnen, sich mit an den Tisch zu setzen und dort mit allen anderen in Kontakt zu kommen und darüber hinaus durch das Essen und das Trinken auch mit der Welt selber zu kommunizieren. So werden am Ende die Armen eingeladen – die dann auch alle sofort, ohne auch nur einen Moment zu zögern, gekommen sein dürften.

So verwundert es nicht – und nun wird es ganz konkret, ganz „materiell“ –, dass Jesus außer den Kindern noch einer weiteren Menschengruppe das Reich Gottes unmittelbar zuspricht: „Selig sind die Armen; ihrer ist das Reich Gottes.“ [Matthäus 5,3 / Lukas 6,20b] Selbstredend können damit nicht Menschen gemeint sein, die zu wenig zum Leben haben, die im Elend leben. Die Armen können hier nur diejenigen sein, die nicht mehr besitzen, als sie brauchen. Dies aber ist für ein Leben im Reich Gottes geradezu grundlegend, nur das gewährleistet unsere Weltverbundenheit, dass wir das, was genug ist, auch genug sein lassen. Alles, was darüber hinausgeht, trennt uns unweigerlich von unseren Mitmenschen und von der Welt. Reichtum ist wie eine Mauer, die uns von allem anderen hermetisch abschließt. „Selig seid ihr, wenn ihr einfach lebt.“ Dieser Liedvers bringt es treffend auf den Punkt. Andersherum gesagt – und Jesus sagt es in unüberbietbarer Schärfe, aber es ist nicht Polemik, sondern es ist die Wahrheit und nichts als die Wahrheit: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr“ – was völlig ausgeschlossen ist –, „als dass ein Reicher ins Reich Gottes gelangt.“ [Markus 10,25] Man muss das einfach wieder spüren, es muss aus unserem tiefsten Inneren kommen, es muss Ausdruck unserer Religion, unserer Welt-Religion sein, dass zum wahren Leben, also zum Leben in aktiver und lebendiger Verbundenheit mit der Welt unabdingbar gehört, sich vor jeglichem Überfluss, vor jeglichem Zuviel aufs äußerste zu hüten, nie über mehr verfügen zu wollen, als man tatsächlich braucht. Unser Glück, ja mehr noch: unsere Seligkeit hängt davon ab. Aber wir werden und wollen dieses Leben in der Wahrheit jetzt nie mehr preisgeben.

Es ist das Leben. In der Kirche könnten wir es feiern, Sonntag für Sonntag, immer wieder. In Gruppen und Initiativen könnten wir es leben, und nichts wird unmöglich sein. Wir werden den langen Atem behalten. Nicht aus Zorn und Wut, sondern aus Überzeugung und Freude werden wir handeln, werden wir der Entfremdung, der Isolierung, Leistungsdruck und Konkurrenzkampf widerstehen, werden wir eine andere Weise zu leben repräsentieren.

Im Reich Gottes, aus der heiligen Verbundenheit mit der Welt heraus merkt man, was dran ist, wann der Same auszusäen, das Senfkorn zu setzen, der Sauerteig zur Hand zu nehmen ist. Wir wissen jetzt, was wir zu tun oder zu lassen haben, wir ahnen, dass so und nur so die ganze Welt genesen könnte. Und manchmal geschehen dann Zeichen und Wunder, man „weiß selbst nicht wie“ [Markus 4,26] – wieder ein Zitat aus einem Jesusgleichnis. Manchmal wird einem dann in diesem großen Zusammenhang des Reiches Gottes etwas zugespielt, das genau in eine bestimmte Situation hineinpasst – als ob es von langer Hand so vorbereitet worden wäre. Mitten im Weltbezug, in der Weltverbundenheit enthüllt sich das Heilige, das Göttliche, spüren wir immer wieder einmal, „dass es stimmt“.

Eben an jenem Tag, an dem ich begonnen hatte, diese Kanzelrede zu konzipieren, stieß ich in dem Buch, das ich vor kurzem geschenkt bekommen hatte und gerade las, auf den Satz: „Dieser Tag war vom Anfang bis zum Schluss von Morgenröte überstrahlt.“ [Victor Hugo, Die Elenden. Roman. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Hugo Meier, Manesse Verlag, Zürich 1968, Seite 151] Eigentlich ja fast paradox, Morgenröte vom Morgen bis zum Abend, aber passt dieser Satz nicht ganz wunderbar zur Jesusbotschaft, so wie ich sie verstehe und heute Abend vor Ihnen ausgebreitet habe? Das jesuanische Evangelium bezieht sich auf das Leben selbst, auf das ganze Leben – vom Morgen bis zum Abend. Rund und richtig ist es nur, als unendlich kostbar, als ein Leben voller Überraschungen und Wunder, als heilig, ja als ein Gottesgeschenk werden wir es erst empfinden, wenn wir mit allen Sinnen spüren, dass wir mit unserer Welt zutiefst verbunden sind, dass sie nicht Um-Welt, sondern wahrhaft und in vollem Sinne Mit-Welt ist.

Dies ist dann von so grundlegender Bedeutung, dies durchtränkt und prägt unsere ganze Lebensweise, drückt sich aus, kommt zur Geltung, realisiert sich in unserem gesamten Lebensstil in einer Weise, dass sich Begriffe wie Frömmigkeit, Religion, Reich Gottes einfach nahelegen. Es ist letztlich ein göttlicher, ein heiliger Zusammenhang, in dem wir existieren. Die Botschaft Jesu enthüllt die Sakralität dieser Weltverbundenheit. Andere Menschen sind nicht Fremdkörper, Konkurrenten, Vorgesetzte oder Untergebene, sondern unsere Schwestern und Brüder. Wir alle brauchen einander zu einem guten Leben, wir sie, sie uns. Die Welt ist nicht Objekt, Gebrauchsgegenstand, Ressource, sondern Quelle unserer Freude, Heimat, Lebensraum, Medium des Reiches Gottes. Wenn wir an ihr teilhaben, wenn wir uns für sie öffnen, wenn wir mit ihr im Einklang sind, dann öffnet sich für uns der Himmel. So möchte ich mit einem weiteren Jesuswort schließen – für mich ist es das wichtigste und das schönste: „Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten könnte; man wird auch nicht sagen: siehe, hier! oder: dort! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ [Lukas 17,20b-21] Wer mitten in ihm lebt, nimmt es wahr: frisches, immer wieder neues, gutes Leben in einer freundlichen, in einer geliebten Welt. Morgenröte – vom Anfang bis zum Schluss.

 

Die Kanzelrede ist Teil einer Reihe des evangelisch-lutherischen Kirchenkreises Meiningen in Zusammanarbeit mit der Leserinitiative Publik-Forum e.V.

Sie steht unter dem Motto: „Ich will das Morgenrot wecken (Psalm 57,9)„.

Näheres entnehmen Sie bitte dem Flyer.

 


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