Die Botschaft vom Reich Gottes als Leitsymbol einer erneuerten Kirche

Zum Buch von Claus Petersen*

Von Friedrich-Wilhelm Bargheer

Auf der Baustelle „Christentum, Kirche & Glaube“ ist im Zuge des Reformationsgedenkens, der „Lutherdekade“ 2017 und auch unabhängig davon „viel los“. Ein paar Beispiele: Klaus-Peter Jörns hat 2004 „notwendige Abschiede“ von nicht mehr zeitgemäßen traditionellen christlichen Glaubensvorstellungen angemahnt; Hubert Halbfas 2011 der Gegenwarts-Kultur und -Gesellschaft in Deutschland allgemein „Glaubensverlust“ attestiert, und beide haben sich dann zusammen getan zu einer „Gesellschaft für eine Glaubensreform e.V.“, die – um der Glaubwürdigkeit von Reformationsgedenken und christlichen Kirchen willen – nach strukturellen Anpassungen nun auch inhaltliche Glaubensreformen anstrebt. Etwa so: „Das Menschenbild der Sühnopfer- und Erlösungstheologie der Ev. Kirche in Deutschland ist nicht vereinbar mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und dem Recht auf Leben nach unserer Verfassung“ (aus der sog. Hofgeismarer Erklärung). Vergleichbar energisch plädiert das (zunächst literaische) Projekt „Die Reformation radikalisieren“ einer globalen ökumenischen Initiative um Ulrich Duchrow, Leonardo Boff u.a. (seit 2015). Da geht es wesentlich um die überfällige Befreiung von den unseren Planeten ruinierenden industrie-kapitalistischen Wirtschaftsformen auf der Linie des Konziliaren Prozesses und der Befreiungstheologie. Vgl. aber auch die eher konservative Internet-Plattform, die Günter Hegele für die Evangelische Akademikerschaft in Deutschland (EaiD) betreut.

„Welt-Religion“ von Claus Petersen gehört in diese Reihe. Das Buch bietet aber nicht nur „Abschied von“ und „Kritik an“, sondern legt eine konstruktive und produktive, wahrhaft erneuernde Sicht der Dinge dar: Weg „von der paulinisch-lutherischen Kreuzestheologie“ und hin „zur Botschaft Jesu von der Gegenwart des Reiches Gottes“. Vor allem: Weg „von den Strukturen der Gewalt zu einer Kultur des Friedens“ (Untertitelung auf dem cover). Petersen sieht folgendes: Luther und Paulus sehen im Geschick Jesu am Marterpfahl der Römer (Kreuz Christi) „Heils-Bedeutung“, und das hat mit dem immer gegebenen Zusammenhang von Theologie und Biografie sowie sozial-kultureller Umgebung zu tun. Der junge Luther nämlich erlebte Zuhause, dass die so genannte elterliche Gewalt physisch vom Vater extrem ausgeübt wurde; da kann man schon von Kindesmisshandlung sprechen. Und was macht ein zum Beispiel wegen Ungehorsam misshandeltes Kind, der körperlich und seelisch verletzte Sohn, um sozial und psychisch zu überleben? –  Da kommt (meine Deutung; FWB) das Erklärungsmodell „Identifikation mit dem Agressor“ ins Spiel. Der Geschlagene rechtfertigt geradezu die Unkultur der Gewalt. Theologisch schräg, verquer und verklemmt wird daraus der „Mythos der erlösenden Gewalt“ (47). „Das Kreuz auf den Altären ist keine Anklage der Gewalt …, sondern Ausdruck ihrer Rechtfertigung (Hervorhebungen von mir; FWB). Sünde muss bestraft … und kann nur durch den Kreuzestod des Gottessohnes gesühnt werden“ (53). Die bekenntnishaft vorgetragene Behauptung, die Heilsbedeutung des Jesus von Nazareth am Kreuz zugefügten entsetzlichen Leidens stelle den Kern … des christlichen Glaubens selber dar, wird … in kaum mehr überbietbarer Weise religiös aufgeladen“ (ebd.). – Mit anderen Worten: Die Gewalttat der Kreuzigung verbürgt „die Erlösung selbst“ (ebd.). Das Kreuz wird zur Ikone des Mythos der Gewalt. – Petersen fragt. „Ist es verwunderlich, daß in dieser Sphäre … der Gewalt die Strukturen der Gewalt kontinuierlich genährt worden sind?“ (56; zustimmend mit Bezug auf Carl Amerys These von den „gnadenlosen Folgen des Christentums“). – Daher das Erfordernis: „Das Christentum müsste ein völlig neues Gesicht annehmen …; nötig ist ein fundamentaler, ein an die Wurzeln gehender, … wahrhaft radikaler Neubeginn.“

An die Wurzeln gehen, heißt auch, den Hintergrund der Gewaltkultur bei Paulus‘ Sichtweise der „Torheit des Kreuzes“ 1Kor 1:18 wieder zu erkennen und entsprechend kritisch zu sehen (28ff.). – Apropos Gewaltkultur: In vorderorientalischen antiken Gesellschaften und Religionen ist sie omnipräent. Die „schwierige“ Erzählung von der „Opferung Isaaks“ Gen 22 bezeugt sie. In christlichen Bibelausgaben und -deutungen wird sie bezeichnender Weise zum Paradigma beispielhaften Gehorsams-Erweises stilisiert. („Sagen des klassischen Altertums“ aus dem hellenistischen Kulturkreis belegen, dass Menschen-Opferung zum Zweck der Sühne für Vergehen und zur Besänftigung mythologischer Gestalten als Vorstellung und literarische Gestaltung im Altertum verbreitet waren). Wie auch immer: „Eine Kultur des Friedens kann auf diesem Boden nicht gedeihen“ (56). Darauf legt es Petersen aber an und erklärt „das jesuanische Evangelium von der Gegenwart des Reiches Gottes“ (65) zum Schlüssel für die die von Jesus eigentlich längst begründete und heute eigentlich nur noch zu bestätigende und zu gestaltende „Welt-Religion“, in welcher „Weltverbundenheit“ heilig gehalten wird in einer wahrhaften „Kultur des Friedens“ (147ff.).

Einer in diesem Sinne radikal reformierten Kirche kämen die Rollen zu, „Botschafterin des Reiches Gottes“, „Wächterin der Erde“ und „Hüterin des Paradieses“ zu sein (193ff.). Es ist nur konsequent, wenn als Leitsymbol dieser erneuerten Kirche statt des römischen Galgens (Kreuz) die bunte Erdkugel den Altar ziert. Und ich (Rezensent) erlaube mir die Fortschreibung: Wir könnten demnächst zum Beispiel mit unseren iranischen Freunden Osterfest zusammen feiern; denn das im Nahen Osten immer schon „auffällig schnelle Aufblühen und Vergehen der Vegetation, ihre unerschöpfliche Fuchtbarkeit, Vitalität sowie die Lebenserneuerung, sei es durch Frühjahrsregen oder durch Zeugung und Geburt“ (Martin Noth, Die Welt des Alten Testaments) spiegelt sich in entsprechenden kultisch-rituellen Schemata („myth-and-ritual patterns“), die wir in der Ökumene der Weltreligionen getrost mit einander teilen dürfen. –  Einen Anfang hat m. E. schon die Neufassung des evangelischen Gesangbuchs gemacht, indem sie (eg 651) Schalom Ben-Chorins 1942 (!) gedichtetes Lied „Freunde, daß der Mandelzweig/wieder blüht und treibt/ist das nicht ein Fingerzeig/dass die Liebe bleibt?“ unter der Rubrik „Angst und Vertrauen“ aufnahm. Es als zeitgemäßes „etwas anderes“ Osterlied zu rubrizieren, hat man sich da noch nicht getraut; es hatte wohl die Einsicht noch nicht gegriffen, dass der christliche Glaube – mit Friedhelm Hengsbach gesprochen –  an seinen Anfängen mit Jesus v. N. nicht als „Doktrin“, sondern als „Nachfolgepraxis“ gedacht war. Es ist aber so. Buchstabiert es nur nach bei Claus Petersen! Und immer daran denken: Wir Heutigen leben –  man muss es nur sehen –  längst im Reich Gottes und brauchen nicht darauf zu warten. Wir sind Hüter des Großen Gartens, und die Vertreibung aus dem Paradies ist eine Prophezeiung, die zur Achtsamkeit mahnt: Sie ist nicht Geschichte, sondern steht noch aus. –  Also besser Wächter und Wächterinnen der Erde sein und bleiben, als auf Raketen zu Weltraumstationen auf Mars und Saturn spekulieren. Und: Keine Gewalt! –  Nie wieder mehr haben wollen als wir zum Leben wirklich brauchen (174)!

Ja – aber: Was wird dann aus Karfreitag, Ostern und Pfingsten? –  Antwort: (Karfreitag): “Jedes Kreuz ein Seufzer/nach Seinem Reich/wo’s keine Kreuze mehr gibt“ (218) – (Ostern): „Die Sache Jesu geht weiter“ (220); „Sie geht wahrhaftig weiter“ (221) – (Pfingsten): „Die Sache Jesu braucht Begeisterte“ (221).

Fazit: So etwa könnte das fällige update der 1517 begonnenen Reformation von Kirche und Gesellschaft aussehen. (fwb)

Claus Petersen: WeltReligion. Von der paulinisch-lutherischen Kreuzestheologie zur Botschaft Jesu von der Gegenwart des Reiches Gottes. Von den Strukturen der Gewalt zu einer Kultur des Friedens. 226 S., Ppb Hamburg: tredition 2016

* CuS. Christin und Sozialistin. Christ und Sozialist. Kreuz und Rose. Blätter des BRSD, 70. Jahrgang, 2-3/2017, S. 19-22.


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