Es gibt kein auserwähltes Volk!

Predigt von Pfarrer Kuno Hauck über 2. Könige 25, 8-12, gehalten am sog. Israelsonntag, den 4. August 2002, in Nürnberg-Mögeldorf

 

Liebe Gemeinde,

mit keiner anderen Religion fühlt sich das Christentum mehr verbunden als mit dem Judentum, deshalb heute der Predigttext über die Zerstörung des Tempels im Jahre 587 vor Christus

Alles hatte damals damit angefangen, dass die Ägypter ihre Oberherrschaft über Palästina an die Babylonier abtreten mussten. Aus der Schlacht bei Karkemisch (605 v. Chr.) geht Nebukadnezar, der „König von Babel“, als Sieger hervor. Nun muss den neuen Herren in Babel der Tribut entrichtet werden. Jetzt muss man den Göttern der Sieger Referenz erweisen. Jojakim, der König von Juda, macht den Versuch, sich der babylonischen Herrschaft zu entziehen, aber der Versuch misslingt. Nebukadnezar lässt einmarschieren. Er erobert Jerusalem und deportiert den König samt der Oberschicht des Landes.  Das Reich Juda wird verkleinert, die Ordnung des Königs von Babel wieder hergestellt. Doch im Land zieht keine Ruhe ein. Unterschiedliche Propheten treten im Namen Gottes auf. Die einen verkünden: „So spricht der Herr, der Gott Israels: Ich habe das Joch des Königs zu Babel zerbrochen; und ehe zwei Jahre um sind, will ich alle Gefangenen aus Juda, die gen Babel geführt sind, …wieder an diesen Ort bringen…“

Eine andere Stimme, des uns später vertrauten Propheten Jeremia, tritt auf und verkündet das Wort Gottes: „So spricht der Herr, der Gott Israels: Ich habe all diese Länder in die Hand meines Knechts Nebukadnezar gegeben. Welches Volk aber… dem König zu Babel, Nebukadnezar, nicht dienen  will, … (das) will ich heimsuchen mit Schwert, Hunger und Pestilenz, spricht der Herr…“

Der König von Juda glaubt Jeremia nicht und kündigt dem König von Babel die Vasallentreue auf. Die Antwort heißt „Krieg“. Unter dem Kommando von Nebusaradan erscheint das Heer des Feindes vor den Toren Jerusalems. Etwa anderthalb Jahre vermag sich die Stadt zu verteidigen, dann ist es soweit: „Jerusalem wird geplündert und der Tempel ein Opfer der Flammen. Die Stadtmauern wurden geschleift. Die Oberschicht musste nach Babylonien ins Exil. Der Staat Juda hatte aufgehört zu existieren.

Aus der Traum! Sechshundert Jahre im Gelobten Land, vierhundert Jahre Davids Reich – alles vorbei! Die Hauptstadt geschleift und gebrandschatzt, der Tempel zerstört, der heilige Berg Zion entweiht, die königliche Dynastie vernichtet, die obersten Priester getötet, die Leute von Rang und Ansehen entweder tot oder im Exil. Das Datum der Katastrophe von 587 gehört zu den Schlüsseldaten der jüdischen Glaubensgeschichte.

In der Geschichte des alten Orients war dieses Ereignis eine höchst nebensächliche Episode, wie fast alle biblischen Ereignisse. Und doch: Das Ende des Davidreiches hatte zur Folge, dass es im Denken und Glauben des Judentums zu einem entscheidenden Durchbruch und zur Weiterentwicklung des Gottesverständnisses kam und so die Grundlagen der Jüdischen Religion gelegt wurden, auf die später Jesus und das Christentum aufbauen.

Mit keiner anderen Religion fühlt sich das Christentum stärker verbunden als mit dem Judentum. Diese Verbindung ist so stark, dass einmal im Kirchenjahr dieser Verbundenheit in besonderer Weise gedacht wird, nämlich am sogenannten „Israelsonntag“.

Doch – der Name „Israelsonntag“ ist problematisch, da er die für mich so nicht akzeptable Gleichsetzung von Israel und Judentum annimmt und verstärkt, was auch in der heutigen Diskussion immer wieder von vielen bewusst vermischt wird: Israel und Judentum sind nicht identisch und wer heute die Politik des Staates Israel zu Recht kritisiert, sagt noch nichts über das Judentum und ist deshalb auch nicht automatisch ein Antisemit. Für uns als Christen in Deutschland ist es wahrlich ein sehr heikles Ding, über die Bedeutung des Judentums für unseren Glauben zu predigen.

Wir wissen genau, dass es ohne das Judentum keine christliche Religion gäbe, da unser Religionsstifter Jesus – Jude war. Unsere Glaubensaussagen bauen auf die Religion des Alten Testaments auf und unsere wichtigsten Ausdrucksformen des Glaubens, wie Taufe, Abendmahl und die Feier des Ruhetages haben ihre Wurzeln in jüdischen Traditionen. Und obwohl wir das alles schon immer wussten, hat das Christentum die grausamsten und schlimmsten Verbrechen durch alle Jahrhunderte hindurch an Menschen jüdischen Glaubens begangen und das nicht nur einmal.

Als Menschen hier in Deutschland werden wir immer mit der unfassbaren Geschichte des millionenfachen Mordens in unserem eigenen Land leben müssen und ich finde es fatal, wenn heute immer wieder gesagt wird, man müsste die Geschichte doch endlich einmal ruhen lassen.

Nein, ich habe keinen Schuldkomplex gegenüber Israel und erlaube mir auch aktuell von schweren Menschenrechtsverletzungen des Staates Israel am Volk der Palästineser zu sprechen, sowie ich auf der anderen Seite Selbstmordattentate als sinnloses Morden bezeichne. Aber ein Staat wie Israel ist verpflichtet sich an internationale Gesetze zu halten und darf nicht wie ein Terrorist in gleicher verabscheuungswürdiger Weise morden und zerstören.

Nein, ich habe keinen Schuldkomplex gegenüber Israel, aber was an Menschen jüdischen Glaubens bei uns im sog. Christlichen Abendland passiert ist, muss uns immer wieder beschäftigen. Denn ich bin nicht überzeugt, dass wir als Kirche und Glaubende aus jahrhundertelangen Judenverfolgungen und dem Holocaust gelernt haben und die nötigen Konsequenzen gezogen haben.

Zurecht wird meines Erachtens behauptet, dass mit der Katastrophe von Auschwitz ein Bruch in der Geschichte des Abendländischen Christentums eingetreten ist, nach dem wir nicht einfach zur Tagesordnung übergehen können, wie es leider vielfach seid 50 Jahren geschieht.

Wenn der Kommandant des Vernichtungslagers Treblinka Franz Stangl in einem Interview auf die Frage: „War Gott in Treblinka?“ Geantwortet hat: „Ja, wie hätte es sonst geschehen können?“,- dann muss doch unsere Gottesvorstellungen ins Wanken geraten. Wo war denn Gott im Konzentrationslager? Auf der Seite der überwiegend getauften Mörder oder auf der Seite der Juden? Können wir nach Auschwitz noch von einem allmächtigen, barmherzigen Gott sprechen? Können wir noch sagen: Gott ist die Liebe? Es ist nicht verwunderlich, dass man in den Kirchen nach einem dürftigen Schuldbekenntnis sehr schnell zur Tagesordnung übergegangen ist, es gab ja „so viele angeblich wichtige aktuelle“ Fragen.

Nein, die Theologie und die Kirchen haben sich nach Auschwitz nicht wirklich in Frage stellen lassen und es wird an den gleichen Lehren festgehalten, die, als es darauf ankam, grundlegend versagt haben. Im Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945 heißt es dann „wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben“.

Ich meine dieser „Israelsonntag“ müsste eigentlich „Holocaust-Sonntag“ heißen. Nach allem was geschehen ist, ist es für Christinnen und Christen eine Notwendigkeit sich ganz konkret mit den Ursachen von blinder Gewalt, Rassenhass und Mord in der Welt zu beschäftigen.

Natürlich kann dies eine Predigt allein nicht leisten, aber ich möchte zumindest auf einen Punkt aufmerksam machen, der mir heute wichtig ist. Beim Nachdenken über die Ursachen von blinder Gewalt gilt es meines Erachtens auch, unser Gottesbild zu hinterfragen.

An welchen Gott glauben wir?

An einen Gott, der, wie es noch der Prophet Jeremia glaubte, das Volk, das ihm nicht dienen will, mit Schwert, Hunger und Pestilenz heimsucht? Nein, das ist nicht der Gott, an den ich glaube. Gott wirkt nicht so in der Geschichte, wie es immer wieder behauptet wird. Er hat nicht Nebukadnezar geschickt um Israel zu strafen, so wenig wie er Auschwitz als Prüfung oder Strafe an den Juden zugelassen hat.

Mag sein, dass die Menschen des Alten Testamentes noch eine andere Gottesvorstellung hatten, so wie sie auch eine eigene Schöpfungsvorstellung hatten, – die wir aber heute durch die Erkenntnisse der Wissenschaft korrigieren müssen. Spätestens seit Auschwitz glaube ich sagen zu müssen, dass Gott in unserer Welt nur durch Menschen am Werk ist, die seinen Geist in sich haben und das leben, was uns Jesus mit seiner Botschaft vom Reich Gottes vorgegeben hat. Gott wirkt nicht in der Geschichte und durch die Geschichte an sich. Blinde Gewalt, Rassenhass und Mord sind gottlos und niemals Mittel mit denen Gott in der Welt wirkt. Was in der Welt an Verbrechen und Grausamkeiten geschieht, geht auf den Menschen zurück und ist seine alleinige Verantwortung.

Unser Gott ist kein Gott, der mit den Seinen in den Krieg zieht, jener Gott an den die Nazis glaubten und daher in blasphemischer Weise auf ihrem Koppelschloss stehen hatten: „Gott mit uns“. Spätestens seit Jesus wissen wir, dass die
Sanftmütigen und nicht die Gewalttätigen die Welt besitzen sollen. Es ist auch nicht so, dass wir sagen können: „Gott lässt das Böse in der Welt zu“. Ich sage: „Gott lässt das Böse in der Welt nicht zu“, denn Gott will, dass sich das Böse zum Guten wendet.  Aber Gott ist in unserer Welt ohnmächtig! Ohnmächtig heißt aber nicht untätig und ohnmächtig heißt nicht, dass er diese Welt aufgegeben hätte, im Gegenteil.

Gott ist zwar überall da in unserer Welt, aber er wirkt in dieser Welt nur durch Menschen, die seinen Geist in sich haben. So wie es in einzigartig zutreffender Weise ein unbekannter Verfasser vor langer Zeit formuliert hat:

Christus hat keine Hände, nur unsere Hände,

um seine Arbeit heute zu tun.

Er hat keine Füße, nur unsere Füße,

um Menschen auf seinen Weg zu führen.

Christus hat keine Lippen, nur unsere Lippen,

um den Menschen von ihm zu erzählen.

Es gibt nicht ein auserwähltes Volk. Jeder Mensch ist auserwählt, jeder hat Verantwortung. Was in der Welt geschieht ist kein Fatum, kein gottgegebenes Schicksal, dem wir uns ergeben müssen. Was in der Welt geschieht, zum Guten oder zum Bösen, ist uns in die Hand gegeben.

Es liegt an uns, ob wir aus unserer Welt ein Konzentrationslager oder ein Paradies machen.

Amen.

 


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